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Porträt

Pfarrer Marcel Cavallo: "Eine Kirche, die sich auf die Stadt einlässt, ist auf dem Weg, über sich hinauszuwachsen." Bild: Nandor Nagy

Pfarrer Cavallo: Der Paulus vom Kreis 4

Von: Isabella Seemann

15. April 2014

Pfarrer Marcel Cavallo von der Offenen Kirche St. Jakob arbeitet dort, wo Himmel und Hölle manchmal nahe beieinanderliegen. Ob er an Ostern in die Kirche geht, weiss er allerdings noch nicht.

Partys und Prostitution, Abenteuer und Armut, Freiheit und Verbrechen: Im Kreis 4 liegen Himmel und Hölle ziemlich dicht beieinander. Marcel Cavallo kennt sich damit aus – von Berufs wegen. Der 48-Jährige ist Pfarrer in der Kirche Offener St. Jakob, die eingeklemmt ist zwischen Obdachlosenheimen, Bordellen und Nachtclubs. Hier wollte er hin. Nicht nur, weil Barbesuche zu seinem Arbeitsbereich gehören. Der Kreis 4 ist ein Stadtteil der Wunder. «Man erlebt hier immer wieder erstaunlich positive Dinge», sagt Cavallo, während er die Treppen des Kirchturms erklimmt und zuversichtlich nach oben schaut. Aber es ist auch ein Stadtteil der Wunden. «Wir haben hier jeden Tag mit Menschen zu tun, die sehr am Rande stehen.»

Martinus, der Grieche
Auf dem Zwischenboden, wo Dutzende von Stahlseilen die Gewölbedecke am Kirchendach festhalten, erzählt er die Geschichte von Martinus, dem Griechen. Eines Tages stand er in der Kirche – ohne einen Franken in der Tasche. Er wollte seine Familie in Zürich besuchen, die er vor 20 Jahren verlassen hatte. Doch keiner wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Sein Sohn nicht und selbst der Bruder nicht. Cavallo dachte gemeinsam mit Martinus nach, wie es weitergehen könnte und vermittelte ihm erst mal ein Bett bei der Notschlafstelle.

Nach einer Woche rief ihn Martinus, vor der Kirche stehend, auf sein Mobiltelefon an und bat um ein paar Schuhe. «Ich fragte den Präsenzdienst, ob sie mal unauffällig schauen könnten, ob Martinus wirklich kaputte Schuhe habe, was mir bestätigt wurde, also fragte ich nach seiner Schuhgrösse, ging ins Brockenhaus und kaufte ihm ein paar Schuhe.»

Doch es ist eine Tatsache, dass immer weniger Leute mit ihren Sorgen in die Pfarrhäuser kommen. Also geht Cavallo hin auf den Markt, wie einst Paulus auf die Agora. Auf seinen Spaziergängen durchs Quartier erkundigt er sich nach dem Wohlbefinden jener Männer und Frauen, die mit Schnapsflaschen auf den Parkbänken beim Stauffacher sitzen, und hört sich ihre Fragen an. Oder er geht in eine Bar und stellt sich dem Wirt als Pfarrer vor. «Die Leute freuen sich, wenn ich komme, mal reden wir zum Plausch, mal besprechen wir Existenzielles.» Eigentlich passiert es selten, dass ihm jemand das Gespräch verweigert.

Marcel Cavallo hat sich noch auf einen ganz anderen Markt gewagt, nämlich direkt in die Privatwirtschaft. Nachdem er einige Jahre das Pfarramt der Chiesa Cristiana Protestante in Mailand ausgeübt hatte, übernahm er bei einer Hotelkette die Verantwortung für Customer Care, was im Fachjargon so viel bedeutet wie: die Bemühungen innerhalb eines Unternehmens, Kunden dauerhaft an sich zu binden. Christsein entscheide sich nicht am Sonntag, sondern im Arbeitsalltag. «Dabei kann der Unternehmer von der Kirche lernen, wie man Vertrauen schafft. Und die Kirche kann vom Unternehmer lernen, wie man Veränderung in Gang setzt.»

Schon bei seiner ersten Anstellung in der Luzerner Matthäuskirche setzte Cavallo auf soziale Medien. Er verkündete das Wort Gottes über das Telefon, bei der Telebibel, und beim SMS-Seelsorgedienst. Seit er in Zürich ist, produziert er hauptsächlich in seiner Freizeit Videos für seinen Youtube-Kanal (www.youtube.com/channeluan), in denen er biblische Inhalte filmisch umsetzt. Soeben hat er seine erste Videopredigt aufgeschaltet: «Wie ist es mit der Freiheit?» Keine Wortpredigt, sondern ein Musikfilm. Damit will er zeigen, dass man die Botschaft von Liebe und Freiheit zeitgemäss vermitteln kann.
Inzwischen macht er sogar schon Videoschulungen für andere Kirchgemeinden. Überhaupt hofft er, mitreissen und andere von diesem Instrument überzeugen zu können. Er wechselt die Perspektive, denkt nicht mehr aus der Kirche, aus ihren Traditionen und Regelwerken heraus, sondern macht sich die Erfahrung der Menschen zu eigen. Und siehe da: Vieles von dem, was zum Kernbestand des Glaubens gehört, ist genau das, was viele Menschen noch immer suchen.

Es sei ein Trugschluss, zu denken, dass sich die Menschen vom Glauben verabschiedet hätten, bloss weil die Sonntagmorgengottesdienste vor halb leeren Reihen stattfänden. «Kirche ist nicht bloss ein Raum, sie ist eine Gemeinschaft, die für andere da ist.» Deshalb engagiere er sich auch direkt in der Stadt Zürich und beteilige sich an Projekten im Quartier, wie einer Wohnungsbörse oder beim Literaturfestival «Züri liest».

Kirche im Umbruch
Marcel Cavallo, Sohn eines italienischen Baptisten und einer Schweizer Reformierten, wuchs zweisprachig in Turin auf, in einem Umfeld von Waldensern, die sich als Teil und Vorläufer des reformierten Protestantismus verstehen. Er studierte evangelische Theologie in Zürich und Rom, wo er bei RAI 2 für eine TV-Sendung im Stil von «Sternstunde Religion» als Regieassistent arbeitete und bald seine Faszination für Fotografie und ­Video entdeckte. Als er schliesslich zum ersten Mal vom Konzept «Kirche in der Stadt» hörte, war er sofort Feuer und Flamme, denn für ihn war klar: Die ­Kirche steckt nicht bloss in einer vorüber­gehenden Krise, sondern vielmehr in einem Umbruch. Wie also kann man Kirchen in Metropolen wieder mit Leben füllen? «Eine Kirche, die sich auf die Stadt einlässt, ist auf dem Weg, über sich hinauszuwachsen, hin in eine neue Kultur des Christseins und des Evangeliums.» Dazu gehört für ihn auch die Beschäftigung mit Themen an der Schnittstelle der theoretischen und experimentellen Physik und philosophischen und religiösen Fragen. Demnächst wird er ein Podiumsgespräch mit dem ETH-Astrophysiker Ben Moore über die Entstehung des Universums organisieren.

Diese Ostern hat Cavallo, der als einer von drei Pfarrern in der Offenen Kirche St. Jakob amtet, frei. Er wird die Tage nutzen, um ein neues Video zu erstellen. «Ich weiss noch nicht, ob ich in die Kirche gehe, und ich sage auch niemandem, er solle in die Kirche gehen.» Wichtig sei vielmehr, dass man sich bewusst sei, dass die Symbolik von Ostern das ganze Jahr gültig sei. Es sei die Geschichte vom Abschied, der zum Aufbruch werde.                               

Ostern im Offenen St. Jakob:
Freitag, 18. April, 10 Uhr: Karfreitagsgottesdienst mit Pfarrer Andreas Bruderer. Sonntag, 20. April, 10 Uhr: Ostergottesdienst.

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