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Porträt

Begeisterter Breakdancer: Der 19-jährige Daniel Seglias aus Urdorf. Bilder: PD/JS

Vom Heimetli zur Breakdance-Battle

Von: Andy Fischer, Clarissa Rohrbach und Jan Strobel

07. April 2015

Zürcher Gesichter: Für so manchen Stadtzürcher hört der Kanton nach der Stadtgrenze auf. Wir portätieren einen Bewohner aus der Agglomeration, eine Grenzgängerin, zwei urbane Ladenbesitzerinnen und den Wirt des höchst gelegenen Restaurants des Kantons.

Daniel Seglias: «Ich bin mehr ein ländlicher Zürcher»

«Die Stadt Zürich», sagt Daniel Seglias aus Urdorf, «ist für mich primär ein Ausbildungsort, ich mache eine Lehre als Hochbauzeichner, und unser Büro befindet sich in Wollis­hofen.» Das Club- und Barleben der Stadt, es spielt in der Freizeit des 19-Jährigen eine untergeordnete Rolle, sieht man von ein paar sporadischen Besuchen im «Kaufleuten» ab. Der Ausgang findet vorwiegend in der Agglomeration statt, in Urdorf und Umgebung, wo sich er und seine Kumpels zu privaten «Home-Partys» treffen, auch weil so eine Partynacht in Zürich einfach zu sehr ins Geld geht und Seglias ohnehin, wie er sagt, «nicht der Ausgangstyp» ist. «Bis zum Abschluss der Sek kannte ich die Stadt eigentlich überhaupt nicht. Wir gingen nie nach Zürich.»

Eine Leidenschaft des Urdorfers ist das Tanzen, genauer, Hip-Hop und Breakdance. «Angefangen hatte es mit Karate, das habe ich sieben Jahre lang gemacht. Danach war ich kurz im Urdorfer Turnverein aktiv. Das hat mich aber irgendwann nicht mehr so gereizt», erzählt Seglias. Die Tanz-Fabrik Urdorf, eine Showtanzschule, bot ihm eine geeignete Bühne für seine Passion. Er belegte Kurse im Streetstyle und Breakdance. Sein Talent blieb dabei nicht unentdeckt: Nach einer Schüleraufführung wurde er in die Showgruppe Flow2Flow aufgenommen, die auch schon mit dem Choreografen von Eminem oder Jennifer Lopez zusammengearbeitet hatte. «Schliesslich bot mir die Tanz-Fabrik eine Ausbildung zum Tanzlehrer an und heute leite ich bereits eine eigene Hip-Hop-Klasse mit elf Schülern.»

Wenn es um ein Heimatgefühl geht, legt sich der Sohn einer Portugiesin und eines Schweizers nicht fest. «Wenn, dann würde ich sagen: Ich bin kein Städter, sondern mehr ein ländlicher Zürcher.»   

Kurt Züger ist der «höchste» Wirt des Kantons: Alp Scheidegg, 1200 m ü. M.

Kurt Züger: «Viele Städter wirken von Jahr zu Jahr gestresster»

Keiner der gut 1,4 Millionen Einwohner des  Kantons wohnt höher über der Stadt Zürich als Kurt Züger. Der 54-Jährige ist Wirt des Restaurants Alp Scheidegg, dem höchstgelegenen Restaurant des Kantons. Von seinem «Häimetli» auf 1200 Meter über Meer geniessen er, seine Familie und vor ­allem seine Gäste eine grandiose ­Aussicht auf das Zürcher Oberland, den Zürichsee und die Alpen. «Bei optimalen Bedingungen sieht man von hier aus sogar Eiger, Mönch und Jungfrau», schwärmt Züger, der seit 14 Jahren auf der Alp oberhalb von Wald wirtet und dort oben zusammen mit seiner Frau Brigitte auch seine Kinder Dominik (heute 19) und ­Fa­bienne (heute 22) aufgezogen hat. «Als sie noch in die Primarschule gingen, fuhren sie im Winter mit dem Schlitten zur Schule», lacht er. «Für sie war das paradiesisch.» Und mit der Einsamkeit, dem weiten Weg zu den nächsten Gspäändli, hatten Sie da keine Probleme? «Natürlich gab es Zeiten, vor allem im Winter, dass das nicht immer unproblematisch war. Dafür wurden die beiden sehr früh sehr selbstständig, und Dominik durfte bei uns oben schon mit 12 auf einer 125er-Maschine fahren; dieses Privileg haben ja noch lange nicht alle Buben», lacht der Scheidegg-Wirt. Am meisten Gäste verzeichnet die Alp Scheidegg natürlich an den ­Wochenenden.  Viele kommen von der 45 Kilometer entfernten Stadt: «Die Städter sind sehr angenehme Gäste. Und doch habe ich das Gefühl, dass viele von ihnen Jahr für Jahr gestresster wirken», so Zügers Urteil.

Bald gehört er und seine Familie auch wieder zu den «Unterländern».  Ende September hört er mit dem Wirten auf. Was dann? «Keine Ahnung», so der 54-Jährige und fügt zuversichtlich an: «Das kommt schon gut. Wer arbeiten will, findet immer etwas. Und ich bin für alles offen.»

Imkerin Anna Hochreutener (l.) und Bäckerin Anet Strusinski betreiben in Wiedikon ihren Laden Honigkuchen (www.honig-kuchen.ch).

Anet Strusinski und Anna Hochreutener: «Bienen und Kuchen»

Anet Strusinski (39) und Anna Hochreutener (30) stehen in ihrem Quartierladen «Honig Kuchen» an der Birmensdorferstrasse 109 in Wiedikon und sinnieren über einen Begriff, der unter gestressten Städtern ziemlich in Mode ist: «Slow living». Es ist ein  Lebensstil, der Entschleunigung meint, eine Suche nach der Natur, eine «Weniger ist mehr»-Attitüde. Auf dem Land ist sie seit je Courant normal, in der Stadt aber erst während der letzten zehn Jahre zum Begriff geworden. «Wir sind ein Laden fürs Quartier», erklärt Anna Hochreutener, «und neben kleinen Wohnaccessoires bieten wir auch unseren selbst produzierten Stadthonig an, dazu Gebäck wie Scones, Muffins – und natürlich unseren Honigkuchen. Gewissermassen alles für eine gemächliche und gepflegte Teatime.»

Hochreutener ist in dem Zweiergespann für den Honig zuständig. Zusammen mit ihrem Mann betreibt sie die Stadtimkerei Wabe 3 mit mehr als 70  Bienenvölkern, verteilt auf Bienenstöcke von Seebach bis Wollishofen. Geschleudert werden die Stadt-Waben im hinteren Teil des Ladens selber. Anet Strusinski ist wiederum die Bäckerin im Haus, spezialisiert besonders auf britische und amerikanische Köstlichkeiten. Sie vereint den Stadthonig ihrer Geschäfts­partnerin mit ihren Backkünsten unter anderem zum Honigkuchen, der zum Markenzeichen geworden ist. Die beiden Zürcherinnen passen mit ihrem ökologischen Unternehmergeist zum Lebensstil im Kreis 3: «Es ist ein aufstrebendes Trendquartier», sagt Anet Strusinski. «Wir hätten unseren Standort nicht besser wählen können.»

«Zürcher sind freundlich und offen»: Die Physiotherapeutin Julia Gihr (29)  pendelt jeden Tag von Singen (D) nach Bülach.

Julia Gihr: « Ich bin ausschliesslich beruflich in der Schweiz»

Zürich ist nicht wirklich auf ihrem Radar. ­Julia Gihr (29) war bisher ein paar Male in der Stadt. Da ging sie tanzen. Die Grenzgängerin pendelt seit anderthalb Jahren zwischen Singen in Deutschland und Bülach, wo sie als Physiotherapeutin arbeitet. Vom Kanton Zürich kennt sie die Strecke zwischen Rafz und ihrem Arbeitgeber Neuhof. «Ich bin ausschliesslich beruflich in der Schweiz, fahre morgens hin und abends wieder weg.» Doch was sie bisher von den Zürchern erlebt hat, stösst auf Freude. Sie habe nichts vom angespannten Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen mitbekommen. Im Gegenteil, die Einheimischen schienen ihr sehr freundlich und offen. «Sie bieten mir immer an, Hochdeutsch zu sprechen. Und jeder sagt ­‹Grüezi› auf der Strasse.»

Gihrs Frühschicht beginnt um 7 Uhr. Um pünktlich bei der Arbeit zu sein, klingelt der Wecker um 4.45 Uhr. Auf der 50-minütigen Fahrt wechselt sie sich mit den zwei anderen deutschen Kollegen der Fahrgemeinschaft ab. Manchmal schläft auch jemand. Das Pendeln fällt ihr nicht schwer, die Vorteile überwiegen. In der Schweiz werde man als Physiotherapeutin ernster genommen als in Deutschland. Und die Bezahlung sei natürlich besser.
Gihr kann sich ein Leben als Grenzgängerin längerfristig vorstellen. Denn wohnen will sie in Deutschland. «Meine Freunde sind in Singen, dort passiert alles.» Und falls sie doch mal in die Stadt will, bietet sich Konstanz eher an. Keine Chance also für Zürich? «Doch, ich könnte mir gut vorstellen, in Zukunft öfters die Stadt zu besuchen."

 

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