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Porträt

Michael Frauenfelder auf dem Joch der grossen Glocke. (Bild: Werner Schüepp)

Vom Obdachlosen zum Grossmünster-Glöckner

Von: Werner Schüepp

18. Juni 2019

Kein Job, kein Geld, alles verloren: Michael Frauenfelder lebte vor wenigen Jahren noch auf der Strasse. Heute arbeitet er als Glöckner und läutet in der grössten Zürcher Kirche die Glocken.

Kürzlich war es so weit. Das Glöcknerinnenteam des Klosters Kappel stattete dem Grossmünster einen Besuch ab. Deren Sigrist und Glöckner Michael Frauenfelder lud sie ein, die imposanten Glocken von Zürichs grösster reformierter Kirche einmal selbst von Hand zu läuten. «Die Frauen bekamen grosse Augen, als sie im Turm standen», sagt Frauenfelder, «sie fragten sich, wie man diese riesigen Glocken von Hand überhaupt zum Läuten bringen kann.»

Nach einer kurzen Einführung machte sich das Trio ans Werk. Die Frauen zogen mit vereinten Kräften am Seil, und der Klöppel hob zum ersten Schlag an. Schon bald schwangen die mehrere Tonnen schweren Glocken, 1889 gegossen, vierstimmig in einer ohrenbetäubenden Geräuschkulisse von ungefähr 120 Dezibel. 15 Minuten dauerte das Geläut, welches für das Team aus Kappel Schwerstarbeit bedeutete. Immer wieder musste Frauenfelder eingreifen, um die Schwingungen der Glocken (die grosse wiegt über vier Tonnen und weist einen Durchmesser von fast zwei Meter auf) händisch zu korrigieren.

Kein Quasimodo

Wenn sich Michael Frauenfelder zwischen den Grossmünsterglocken bewegt und herumklettert, dann erinnert er in keiner Weise an Quasimodo, seinen buckligen Berufskollegen aus Victor Hugos berühmtem Roman «Der Glöckner von Notre-Dame». Im Gegenteil, der 39-Jährige ist zwar nicht besonders gross, dafür athletisch-muskulös gebaut. «Viele nennen mich Glockenmichi», sagt er, «denn mit diesem Job ging mein grösster Traum in Erfüllung.» Sein Arbeitszimmer ist der Glockenturm – hoch über den Dächern Zürichs mit traumhafter Aussicht.

Von unten nach ganz oben

Dass Michael Frauenfelder heute jobmässig «ganz oben» steht, ist keine Selbstverständlichkeit. Mit 30 Jahren verlor der gelernte Maschinenmechaniker seinen Job. Die Freundin lief davon, die Wohnung wurde ihm gekündigt, das Geld wurde knapp. «So landete ich auf der Strasse, schlief mal dort, mal da und bettelte Passanten an.» Als Obdachloser war sein früheres Leben auf einen Schlag ausgelöscht. Viele würden an einer solchen Lebenssituation verzweifeln. Frauenfelder hingegen verlor auch in der schwersten Zeit seines Lebens nie die Hoffnung. «Wenn es mir mies ging, habe ich auf die Glocken der Zürcher Kirchen gehört. Das gab mir Kraft.»

Im Frühling 2012 landete er in Pfarrer Siebers Pfuusbus, wo er Essen und ein warmes Bett bekam. Ab dann ging es mit ihm bergauf. «Weil ich kein Drogenproblem hatte und körperlich gesund war, jobbte ich bei Pfarrer Sieber bald als Zügelhelfer und zog in eine Notwohnsiedlung der Sozialwerke Siebers.» Bald darauf hörte er, dass das Grossmünster einen alten Brauch wiederaufleben lassen wolle und Freiwillige suchte, welche die Dachreiterglocke von Hand läuten. «Das war meine Chance», erinnert er sich, «ich habe mich sofort gemeldet.» Bald schon führte er neben dem Glockenläuten kleinere Putzarbeiten aus, flickte Türschlösser und Lampen, kurz gesagt, war «Mädchen für alles» und hielt die Kirche in Schuss.

Ende 2013 gab ihm Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist einen Arbeitsvertrag. «Seither bin ich in der grössten Kirche der Stadt Zürich Glöckner und Sigrist», sagt Frauenfelder. Wenn er Lust hat, schaltet er den Läutautomat des Grossmünsters ab und legt selbst Hand an. Immer tut er dies am Samstagabend und an Feiertagen. «Das Einläuten des Sonntags ist ein spezieller Moment für mich, denn ich beginne als Erster in der ganzen Stadt zu läuten.» Obwohl er keine Uhr am Handgelenk trägt und Wecker verabscheut, hat er noch keinen Einsatz verpasst. Richtig ins Schwitzen kommt er beim Sechseläuten. Denn solange der Böögg den Kopf noch hat, hält er die grosse Glocke mit seiner Körperkraft in Schwung. «Ich hoffe jedes Jahr, dass der Böögg möglichst schnell explodiert», lacht er.

Fitnessstudio in der Kirche

Glocken haben Michael Frauenfelder schon als Kind fasziniert. Heute ist er längst selbst ein Glockenspezialist und reist in seiner Freizeit für seine Leidenschaft quer durchs Land, um fremde Glockentürme zu besuchen. «Ich habe über 500 im In- und Ausland gesehen.» Wo der schönste steht, könne er nicht sagen. Beeindruckt war er von der Petersglocke im Kölner Dom, die 25 Tonnen schwer ist. Aber ob Münsterkirche in Bern, Stephansdom in Wien, am liebsten sind ihm die Glockentürme des Grossmünsters. «Das ist für mich wie ein Stück Heimat, hier sind meine Wurzeln.»

Was braucht es, um ein guter Glöckner zu werden? Eine grosse Freude an Glocken, eine Portion handwerkliches Geschick und die Bereitschaft, etwas Neues zu lernen, sagt Michael Frauenfelder. Muskeln sind von Vorteil, denn die Arbeit ist körperlich anstrengend. «Ich habe mein Fitnessstudio in der Kirche», sagt er und verabschiedet sich. In einer Stunde öffnet die Kirche ihre Tore, und für morgen müsse er noch eine Führung für eine neue Gruppe vorbereiten.

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