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Porträt

Der blinde Reisejournalist Christoph Ammann: «Ich gehe relativ nüchtern mit meiner Behinderung um.»Bild: Urs Jaudas

Wenn der weisse Stock die Welt etwas sichtbarer macht

Von: Jan Strobel und Sibylle Ambs-Keller

08. Oktober 2019

Christoph Ammann zählt zu den bekanntesten Reisejournalisten im deutschsprachigen Raum. Das hat auch mit einer ungewöhnlichen Kombination zu tun: Der 61-Jährige beschreibt in seinen Artikeln als Blinder die Destinationen dieser Welt. Mit dem Verlust seines Augenlichts hat sich seine Wahrnehmung noch geschärft.

Das Engadin hatte sich an jenem Januartag 2011 Christoph Ammann noch einmal von seiner traumhaften Seite gezeigt. Auf der Muottas Muragl oberhalb von Samedan glitzerte der Firn in der weiten Bläue. Später öffnete sich der Blick auf die Seenlandschaft, umschmeichelt von der Morgensonne. Es war, als ob sie wie zum Abschied noch einmal die Schönheit dieser Welt hätte herausstreichen wollen, die er oft bereiste und in seinen ­Artikeln beschrieb. «Dieses Bild war etwas vom Letzten, das ich konkret vor Augen habe», sagt Christoph Ammann. «Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich das nie mehr werde sehen können.»

Dass die Dunkelheit irgendwann kommen würde, das war dem heute 61-Jährigen eigentlich seit seinem 11. Lebensjahr bewusst. Damals erhielt er die Diagnose Retinitis pigmentosa, eine Netzhautdegeneration, die zum allmählichen Verlust der Sehfähigkeit bis zur kompletten Erblindung führt. Die Krankheit ist  erblich; bereits Christoph Ammanns Vater, der als Primarlehrer arbeitete, litt darunter. «In meiner Kindheit machte sich die Krankheit eigentlich nur in einer Nachtblindheit bemerkbar, ansonsten sah ich sehr scharf. Als 20-Jähriger spielte ich begeistert Fussball. Dort stiess ich beim Training unter Flutlicht an meine Grenzen. Irgendwann begann sich der Sichtwinkel einzuschränken, aber das merkte ich im Alltag praktisch kaum», erzählt Christoph Ammann.

Etwa mit 40 Jahren begann ihm Sonnenschein immer mehr Mühe zu bereiten, ebenso, Kontraste und Schattierungen deutlich zu erkennen. «Schliesslich sah ich immer unschärfer, die Farben veränderten sich. Ich bewegte mich in einem bunten Nebel. Am Ende wurde ich innerhalb von sieben bis acht Monaten blind.» Heute sieht Christoph Ammann nur noch Lichtquellen, Lampen etwa, oder den Vollmond, den Schein einer Kerze oder Autoscheinwerfer.

Wie kann einer, der blind ist, trotzdem noch als Reisejournalist arbeiten? Christoph Ammann beantwortet die Frage mit einem Lächeln: «Was ich mache, das geht eigentlich gar nicht.» Tatsächlich zählt er zu den bekanntesten Reisejournalisten der Schweiz, seit 33 Jahren ist er rund um den Globus unterwegs und leitet überdies die Reiseredaktion für die Zeitungen von Tamedia. Er bereiste auf abenteuerlichen Wegen die mongolische Steppe, am Strand von Ipanema sonnte er sich mit der gehobenen Gesellschaft Rio de Janeiros, er gleitete mit dem Langboot durch den schwimmenden Markt von Damnoen Saduak bei Bangkok. Gerüche, Farben, Gesichter – Christoph Ammann fasste seine Eindrücke meisterhaft in Worte.

Als die Blindheit schliesslich da war als unabänderliche Tatsache, galt es, einen Plan zu entwickeln, eine «Überlebensstrategie», wie es Christoph Ammann nennt. «Was kann ich, was kann ich nicht? Darauf musste ich mich konzentrieren und auch das Positive aus meiner Behinderung ziehen. Damit möchte ich auch anderen Mut machen.» Die Blindheit in Kombination mit dem Reisejournalismus begründete schliesslich auch einen gewissen Bekanntheitsgrad.

Stadtpläne im Kopf

Heute erfasse er als Journalist die Dinge besser als früher, wobei Landschaften eher schwierig seien. «Eine Landschaft als Blinder zu beschreiben, das wäre ja wenig glaubhaft. Da muss ich vorsichtig sein», sagt Christoph Ammann. Viel lieber bereist er Städte oder Orte mit historischen Hintergründen, die er in seine Texte einfliessen lassen kann. Auch auf Kreuzfahrtschiffen mit ihren technischen und logistischen Fakten und Daten ist der Journalist häufiger unterwegs. Doch einfach loszulaufen und auf eigene Faust auf Recherche- und Entdeckungstour zu gehen, das ist nicht mehr möglich. Er ist auf seinen Reisen auf eine führende Hand angewiesen, auch in der Redaktion in Zürich steht ihm tageweise eine Assistentin zur Seite. Trotzdem hat er zum Teil ganze Stadtpläne und Strassenzüge noch im Kopf, von Berlin zum Beispiel oder Innsbruck. Da kommt es schon einmal vor, dass er Sehenden den Weg weisen muss.

Viel mehr ins Gewicht bei seiner Arbeit fallen jetzt Geruch-, Tast- und Gehörsinn, die Feinheiten, die zuvor mitunter gar nicht wahrgenommen wurden. Dazu kommen immer auch die Eindrücke seiner Mitreisenden, die ihm die Szenerien beschreiben. Immer mit dabei ist jeweils sein kleines Aufnahmegerät, in das er die Informationen diktiert.

Mit seiner Behinderung geht Christoph Ammann nüchtern um, auf eine rationale, nicht emotionale Weise. Als mitleiderregendes Wesen durch die Welt zu laufen, wäre ihm ein Gräuel. «Wenn ich ständig mit meinem Schicksal hadern würde», sagt er, «dann könnte ich nicht  mehr gut leben. Ich habe mich mit der Blindheit angefreundet, mich im Leben mit meiner Frau und meinen Töchtern gut eingerichtet. Ich stehe jeden Morgen gerne auf.» Natürlich, das gibt er zu, habe er im ersten Jahr mit seiner Blindheit zu kämpfen gehabt. «Es geht schliesslich um einen Verlust, du siehst nichts mehr. Aber wenn du einmal alles verloren hast, dann ist es eigentlich gar nicht mehr so schlimm. Es lässt sich einfach nicht mehr ändern.»

Ein Verlust anderer Art sei sein Rollenverständnis als Ehemann und Familienvater gewesen. «Ich bin nicht mehr der, der sich beschützend vor die Familie stellen kann, der sozusagen Bäume fällt und Wölfe jagt. Das macht jetzt meine Frau. Ich sorge noch für ein anständiges Einkommen.» In seinem Umgang mit seiner Familie habe er lernen müssen, sich in Geduld zu üben. «Sie machen schliesslich schon genug für mich.»

Die nächste berufliche Fernreise wird Christoph Ammann unter anderem nach Argentinien und Uruguay führen. Vielleicht wird er seinen Lesern den Rio de la Plata beschreiben oder das pulsierende Buenos Aires. Und es wird für sie dann fast so sein, wie wenn sie das alles selbst vor Augen hätten. (Jan Strobel)

 

Am 15. Oktober wird zum 50. Mal der Internationale Tag des weissen Stocks begangen. Er möchte auf die Bedürfnisse und Anliegen blinder und sehbehinderter Menschen aufmerksam machen. In der Stadt Zürich steht besonders eine neue Gefahr im Fokus: die E-Scooter, welche die Trottoirs blockieren.

Ein Alltag mit Tücken: Achtlos auf dem Trottoir abgestellte E-Scooter sind nur eines der Hindernisse, die Zina Indermaur auf ihrem täglichen Weg durch die Stadt behindern können. Bild: PD

Sie hört sie nicht kommen und kann sie schon gar nicht sehen, wenn sie auf dem Trottoir abgestellt sind: Für die blinde Zina Indermaur sind die E-Scooter eine weitere, nicht ungefährliche Komponente auf ihren täglichen Wegen durch die Stadt. «Mit meinem Langstock ertaste ich auf meinem Arbeitsweg immer häufiger auch E-Scooter, die von Benutzern achtlos mitten auf dem Gehweg stehen gelassen werden. So kann ich auf Strecken, die ich gut kenne und die ich normalerweise zügig begehen kann, nicht mehr sicher sein, ob da nicht plötzlich etwas im Weg steht», erläutert sie und ergänzt: «Das schränkt meine tägliche Freiheit sehr ein.»

Auch in voller Fahrt mischen E-Scooter-Fahrer auf dem Trottoir trotz Verbot immer häufiger mit. Sie kämpfen sich an Kindervelos, Skateboards und Fussgängern vorbei. «Man wird zum Teil mit sehr hoher Geschwindigkeit überholt, und anders als ein Velo oder ein E-Bike, das leise sirrt, sind die Scooter mit Elektroantrieb völlig geräuschlos», erklärt Zina Indermaur. Gemäss Michael Walker, Mediensprecher der Stadtpolizei Zürich, stellt auch die Polizei fest, dass Fahrzeuge und Verkehr auf den Trottoirs zugenommen haben, seitdem vermehrt mietbare E-Trottis angeboten werden. Die E-Scooter unterstehen den gleichen Verkehrsvorschriften wie Velos. Ein Elektroscooter-Lenker kann für das Befahren des Trottoirs eine Ordnungsbusse von 40 Franken kassieren. Das Nichtbeachten eines Fahrverbots kann mit 30 Franken geahndet werden.

Richtig gefährlich
Öffentliche Trottoirs müssen laut dem geltenden Behindertengleichstellungsgesetz BehiG für Geh- und Sehbehinderte barriere- und risikofrei begehbar sein. Doch wer sich auf unseren Trottoirs umsieht, zweifelt oft an der Bekanntheit dieser Norm im Alltag. Stolperfallen sind allgegenwärtig.
Darauf macht der Schweizerische Blindenbund am Internationalen Tag des Weissen Stocks am 15. Oktober aufmerksam. «Wir möchten die Bevölkerung mit Aktionen in verschiedenen Städten für das Thema sensibilisieren», erklärt Lea Appiah, Orientierungs- und Mobilitätslehrerin bei Sichtbar Zürich, der örtlichen Beratungsstelle des Schweizerischen Blindenbunds.

So geht es auf dem geplanten Sensibilisierungsparcours im HB Zürich auch um Schilder und Reklametafeln, die mitten auf dem Trottoir aufgestellt werden. Ungenügend abgesicherte Baustellen, in Eile auf dem Trottoir parkierte Autos oder scharfkantige LKW-Laderampen – all dies erschwert nicht nur das Leben von Blinden und Sehbehinderten, es kann auch richtig gefährlich werden. Neben Aktionen und Info-Veranstaltungen ist der Schweizerische Blindenbund in erster Linie eine Selbsthilfeorganisation mit Beratungsstellen für ­Betroffene. «Wir helfen mit Mobilitätsschulungen, sich im Alltag zurechtzufinden», so Lea Appiah. Sie ist zusätzlich IV-Expertin für Blindenführhunde und Beraterin für sehbehinderten- und blindengerechtes Bauen. «Wir sind auch in einer VBZ-Fachgruppe vertreten und können unsere Anliegen direkt einbringen, wenn es zum Beispiel um die Neubeschaffung von Trams geht.»

In Bezug auf die E-Scooters hat der Schweizerische Blindenbund die Sicherheitshinweise auf den Apps der gängigen Anbieter unter die Lupe genommen. Einige, wie Bird, Tier und Voi, weisen ihre Kunden ausdrücklich darauf hin, die Parkingregeln einzuhalten, aus Rücksicht auf alle Fussgänger­gruppen. (Sibylle Ambs-Keller)

Weitere Informationen zum Internationalen Tag des weissen Stocks:
www.blind.ch

 

 

 

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