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Porträt

Yasemin musste ihre frühere Identität vollständig aufgeben. Bild: JS

Wenn die eigene Familie zum Gefängnis wird

Von: Jan Strobel

19. Februar 2019

Auch in der Schweiz werden jedes Jahr Hunderte junger Frauen, aber auch junger Männer von ihren Eltern zur Heirat gezwungen und dafür im Extremfall auch ins Ausland verschleppt. Eines dieser Opfer ist die 21-jährige Yasemin. Sie konnte sich gerade rechtzeitig retten und bezahlte dafür einen hohen Preis.

Dies ist die Geschichte einer Wiedergeburt. Es ist die Geschichte einer jungen Stadtzürcherin, die ihre alte Identität begraben musste, um frei sein zu können, die ihre Familie – den Vater, die Mutter, die Schwester – wohl nie mehr wiedersehen wird, kraft eines einsamen Entschlusses. Es ist ein Lebensweg, an dessen Rändern Begriffe wie Ehre, Tradition, Gehorsam und Unterwürfigkeit wie Pflöcke eingeschlagen wurden, und die, so zumindest war es der Plan gewesen, die Zukunft abstecken würden. Eine Ausfahrt war nicht vorgesehen. 

Sich selbst zu verneinen und ihren freien Willen in der Seele eingesperrt zu lassen, das war für die junge Frau, nennen wir sie Yasemin, lange eine Selbstverständlichkeit gewesen. Als Dreijährige kam sie aus dem türkischen Teil Kurdistans mit der Familie in die Schweiz. «Die Regeln waren von Anfang an klar», erzählt sie. «Meine Schwester und ich mussten gehorchen. Es gab keine Spielräume. Nach der Schule mussten wir sofort nach Hause. Unsere Freundinnen durften wir nicht einladen. Jungen waren ohnehin kein Thema. Überhaupt wurde über Sexualität nie geredet, die existierte für uns nicht. Meine Mutter durfte nichts entscheiden, unterstützte mich aber auch nie. Das Sagen lag voll und ganz bei meinem Vater, und nur er definierte, was richtig und was falsch ist. Er setzte sich mit Gewalt durch. Als ich 13 Jahre alt war, wurde ich das erste Mal geschlagen.» 

«Jeder hat die freie Wahl»
Weil über Männer nie geredet wurde, machte sich der Teenager Yasemin irgendwann eigene Gedanken über sie. Klar war, dass die Eltern ganz konkrete Erwartungen an einen möglichen Partner hatten, dass er zum Beispiel Kurde und alevitischer Religion sein musste. Aber schliesslich lebte die Familie nicht mehr in der Türkei. In der Schweiz, dachte sich Yasemin, würden sich diese Regeln ohne Zweifel nicht durchsetzen lassen. «Hier hat doch jeder die freie Wahl, wie er sein Leben gestalten möchte. Ich fühlte mich sicher und begann sogar heimlich eine Beziehung.» 

Als Yasemin 17 Jahre alt wurde, kam ein Mechanismus in Gang, der ihr immer mehr aus den Händen glitt. Der freie Wille begann sich als Illusion zu entpuppen. «Meine Mutter suchte immer öfter das Gespräch mit mir, sie redete mir zu, sagte: Es wird langsam Zeit, dass du heiratest und eine eigene Familie aufbaust. Was soll ich den Verwandten in der Türkei sagen? Wie soll ich ihnen klarmachen, dass meine älteste Tochter immer noch keinen Ehemann gefunden hat?» 

Ihr erster Gedanke, erzählt Yasemin, sei damals nicht gewesen, abzuhauen, sondern ihren Standpunkt mit Respekt vorzubringen, ohne die traditionsbehafteten Vorstellungen der Mutter zu verletzen. «Ich sagte ihr, dass ich doch noch zu jung sei. Dass ich zuerst die Schule und die Lehre abschliessen müsse. Ich wollte Zeit gewinnen.» Die Antwort allerdings war unmissverständlich. Es ging hier nicht um einen individuellen Lebensplan; es ging um die Ehre der Familie. «Es wäre für meine Eltern eine Schande gewesen, wenn ich aus der Reihe tanzen würde.» 

Die Mutter begann, potenzielle Ehemänner für ihre Tochter zu selektieren. Eine der klassischen Bühnen für die Rekrutierung sind kurdische Hochzeitsfeiern, an denen das weitverzweigte und international verwobene Verwandtschaftsnetz zusammenkommt. Hier werben Eltern für ihre Söhne und Töchter, hier werden auch Verlobungen arrangiert, manche ohne Mitsprache der Kinder. Diese münden schliesslich zwingend in die Heirat. 

In Yasemins Fall bekam die Mutter Fotos von Kandidaten zugeschickt. Häufig lebten diese Männer, die alle viel älter als Yasemin waren, im Ausland, in Deutschland etwa und natürlich in der Türkei. Die Männer bekam sie nie persönlich zu Gesicht. «Als schliesslich meine gleichaltrige Cousine in der Türkei heiratete, merkte ich, dass es jetzt eng für mich wurde. Die Situation glitt ins Extreme. Jeden Tag redete meine Mutter auf mich ein, es kam zum offenen Streit. Das war der Moment, als mein Vater ins Spiel kam.» 

«Nichts zu sagen»
Der Mann, auf den die Wahl gefallen war, lebte in Österreich. Er war 33 und Yasemin gerade einmal 19 Jahre alt. «Mein Vater, der sich zu Beginn aus der Sache herausgehalten hatte, wurde wütend, weil er merkte, dass ich mich widersetzen wollte. Er meinte, ich hätte hier nichts zu sagen, nur der letzte Schritt gehe an mich. Mit dem letzten Schritt meinte er die Heirat. Ich versuchte, erneut respektvoll das Gespräch zu suchen, aber mein Vater begann zuzuschlagen, er warf mich gegen die Wand, zerriss mein T-Shirt. Ich durfte mich gegen ihn nicht wehren. Wenn mein Vater entschied, dass das der richtige Mann für mich sei, dann hatte das einfach so zu sein, selbst wenn ganz Kurdistan vor ihm gestanden wäre, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Es war klar, dass die Heirat mit diesem Fremden in ein paar Monaten durchgezogen würde und ich in Österreich mit ihm leben müsste. Wenn ich jetzt nicht gehe, sagte ich mir, dann werde ich dort kaputt gehen.» 

In der Nacht packte Yasemin ein paar wenige Dinge zusammen. Mit ihrem versteckten Freund hatte sie einen geheimen Treffpunkt vereinbart. «Um ein Uhr morgens, als alle schliefen, verliess ich das Haus. Seither habe ich meine Familie nicht wieder gesehen. Das ist jetzt zwei Jahre her. Die ersten Tage kam ich bei meinem Freund unter. Aber ich durfte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Wir suchten nach einer Hilfe und stiessen auf die 24-Stunden-Help­line der Fachstelle Zwangsheirat. Ich schilderte am Telefon meinen Fall. Es musste schnell eine Lösung gefunden werden. Die Organisation hat sofort gehandelt.» 

Heute lebt Yasemin an einem anderen Ort. Ihren alten Freundeskreis musste sie aufgeben, und auch für die Beziehung mit ihrem damaligen Freund gab es für sie keine Zukunft, weil auch er gewalttätig ihr gegenüber war. «Ich bin jetzt sehr weit weg von meiner Familie und fühle mich sicher», sagt sie. «Ich bin stärker geworden, ich kann meine Meinung sagen und zu ihr stehen, mitteilen, was ich fühle und denke. Ich kann eigene Entscheidungen treffen.»

Die 21-Jährige hat wieder einen neuen Partner gefunden. «Liebe bedeutet für mich, dass man füreinander da ist, ohne Erwartungen. Dass man sich gegenseitig anzieht und Zuneigung zueinander empfindet. Wenn ich einmal selbst Kinder haben werde, dann weiss ich, dass ich alles für sie tun werde. Sie sind schliesslich mein Fleisch und Blut. Ich könnte nicht tatenlos ihrem Leiden zusehen. Wie sie daran kaputt gehen. Das hat meine Mutter getan, und das ist keine Familie für mich. Familie bedeutet, dass man sich stärkt, sich unterstützt; diese Bande sollten doch eigentlich ein Leben lang halten.» 

An junge Frauen, welche sich in einer ähnlichen Situation befinden, wie sie Yasemin durchleben musste, richtet sie eine Botschaft: «Es gibt immer eine Möglichkeit, auszubrechen, auch wenn die Angst überwältigend scheint und auch wenn der Preis unfassbar hoch ist. Ich bereue es bis heute, dass ich nicht früher aufgestanden bin, dass ich meine Eltern immer in Schutz genommen habe, vor allem meinen gewalttätigen Vater. Auch mit meinen Freundinnen und in der Schule sprach ich nie über das Thema Zwangsheirat. Ich wollte meine Familie nicht in ein schlechtes Licht rücken. Vielleicht hätte ich vieles vermeiden können.» 

Interview: «Besonders kritisch ist die Zeit der langen Sommerferien»

Die Juristin Anu Sivaganesan ist Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat, welche Betroffenen Beratung und Begleitung bietet. Als Kompetenzzentrum des Bundes klärt die Fachstelle auch die Öffentlichkeit über das Thema Zwangsheirat in der Schweiz auf.

Wie definieren Sie den Begriff der Zwangsheirat?
Anu Sivaganesan: Von Zwangsheirat sprechen wir dann, wenn jemand durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile genötigt wird, eine Ehe einzugehen. So steht es seit 2013 in Artikel 181a des Strafgesetzbuches, der eine Freiheitsstrafe bis 5 Jahre vorsieht. Bei der Fachstelle reden wir auch von Zwangsheirat, wenn eine betroffene Person es gar nicht wagt, sich zu widersetzen, weil sie negative Konsequenzen befürchtet. Jede Zwangsheirat verletzt die Menschenwürde.

Wo sehen Sie die Hauptursachen für Zwangsheiraten?
Die Wurzeln liegen hauptsächlich in der fehlenden Gleichstellung von Mann und Frau aufgrund überkommener, auch religiöser, Traditionen und Denkmuster. Die grosse Mehrheit der Betroffenen, die unsere Fachstelle kontaktieren, sind Frauen. Allerdings gibt es auch Männer, die zur Heirat gezwungen werden, zum Beispiel Homosexuelle. Sie müssen eine Frau heiraten, um die «Ehre» der Familie zu retten oder um «geheilt» zu werden. 

Welches Altersspektrum ist für Betroffene typisch?
Wir beraten und begleiten bei der Fachstelle Zwangsheirat am meisten junge Frauen zwischen 15 und 25. Ein Drittel sind Minderjährige. Mit dem Alter steigt der Druck zur Heirat, vor allem bei den Frauen.

Gibt es Zahlen, welche das Ausmass des Problems belegen?
Eine Studie des Bundes schätzte 2012 etwa 700 Zwangsbeziehungen pro Jahr. Seit die Fachstelle Zwangsheirat 2005 mit Beratungen begann, betreuten und begleiteten wir rund 2400 Fälle. Besonders kritisch ist jeweils die Zeit vor den und während der langen Sommerferien. In diesen Wochen erhalten wir jeweils die meisten Notrufe – bis zu zehn Fälle wöchentlich. Es ist die Zeit, in der es häufig zu Verschleppungen ins Ausland kommt.

Welche Herkunft haben die Betroffenen?
Die Betroffenen stammen gemäss der Bundesstudie häufig aus der Türkei, dem sogenannten Balkan und aus Sri Lanka. Bei der Fachstelle Zwangsheirat hatten wir bisher über 20 Nationalitäten.

Juristisch wird relativ wenig gegen das Problem vorgegangen. Weshalb?
Viele Betroffene scheuen juristische Schritte, weil sie noch mehr negative Konsequenzen durch die «Blossstellung» der Familie fürchten. Eine Frau hat es in der Beratung mal so formuliert: «Jetzt habe ich die Familie gegen mich, bei einer Anzeige habe ich die Verwandtschaft sogar im Ausland gegen mich.» Aus Sicht der Betroffenen kommt Schutz vor Strafe. Die Fachstelle Zwangsheirat begleitet die Schutzbedürftigen mit behördlicher Unterstützung in die Freiheit und zur Selbstbestimmung.

Brennpunkt Zürich

Zürich gehört zu den Brennpunkten von Zwangsheiraten. Die 2001 geschaffene Fachstelle Zwangsheirat, neu Kompetenzzentrum des Bundes, will eine enge Zusammenarbeit insbesondere auf der behördlichen Ebene bei Zivilstands- und Migrationsbehörden, bei Schutzeinrichtungen aber auch in den Schulen und der Jugendarbeit für Fälle intensivieren. Heute Mittwoch, 20. Februar, wird deshalb in Zürich eine Fachtagung zur gemeinsamen Praxis gegen Zwangsheirat lanciert und am 19. Februar 2020 zu Gefährdungsmanagement fortgesetzt. 

Weitere Informationen:
www.zwangsheirat.ch
Helpline: 0800 800 007 (kostenlos)

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