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Porträt

Wenn nichts mehr ist, wie es mal war

Von: Ginger Hebel

05. September 2016

1300 Menschen nehmen sich in der Schweiz jährlich das Leben. Stephanie Theobald hat ihre Mutter und ihren Ex-Mann durch Suizid verloren. Sie ist eine von vielen Hinterbliebenen, die die Ohnmacht aushalten müssen in einer Gesellschaft, in der Trauer keinen Platz hat.

Der Schmerz ist an manchen Tagen stechend. Manchmal sitzt er ganz tief in der Seele wie ein Schatten, der immer da ist, auch wenn die Sonne scheint. Stephanie Theobald war 24 Jahre alt, als ihre Mutter sich das Leben nahm. Die Tragödie ist jetzt 30 Jahre her, doch die Trauer begleitet sie immer.

Stephanie Theobald wuchs in Köln auf, ihr Vater war Journalist, die Mutter Hausfrau. Die Familie zog dem Job hinterher, nach Hamburg und Ende der Siebzigerjahre nach Zürich. Theobald freute sich über den Wechsel in eine andere Stadt, am Zürichberg fühlte sie sich schnell heimisch. Sie machte Matur und studierte Geschichte. Auch ihrer Mutter schien es in der Schweiz zu gefallen, sie sei aber oft sehr traurig gewesen. Sie war depressiv, doch über das dramatische Ausmass ihrer psychischen Befindlichkeit wussten weder Familie noch Freunde richtig Bescheid. «Damals war die Krankheit nicht so greifbar wie heute», sagt Stephanie Theobald. Sie erinnert sich, wie sie ihre Mutter an schlechten Tagen aufzuheitern versuchte und ihr aufzeigen wollte, dass doch auch ihr Leben ein schönes sein könnte. «Ich hatte das Gefühl, ich rede in ein bodenloses Loch, und es bewirkt nichts.» Mit 52 Jahren nahm sich ihre Mutter das Leben.

Jährlich sterben in der Schweiz über 1300 Menschen durch Suizid, das sind viermal so viel, wie durch Verkehrsunfälle ums Leben kommen. Die meisten Hinterbliebenen bleiben mit offenen Fragen zurück, sprachlos vor Schmerz und Wut.

«Jeder trauert anders»

Nach dem Tod ihrer Mutter kämpfte sich Stephanie Theobald ins Leben zurück. Sie heiratete, bekam zwei Kinder, verabredete sich mit Freundinnen, ging wandern und lernte, sich wieder über die schönen Dinge des Lebens zu freuen. Sie sah die Welt nicht mehr nur durch einen grauen Schleier. Bis es im Frühling 2015 zum zweiten Suizid in ihrer Familie kam. Ihr Ex-Mann, der Vater ihrer Kinder, brachte sich um. «Ich hätte in meinen schlimmsten Träumen nicht gedacht, noch einmal so etwas erleben zu müssen.»

Trost im Refugium

Stephanie Theobald sitzt in einem Zürcher Café vor einem Verveine-Tee und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Sie ist kein Mensch, der sein Innerstes nach aussen kehrt. Ihre Geschichte erzählt sie, weil sie sich erhofft, dass andere Hinterbliebene auf diese Weise von den Begegnungsorten und Gesprächsangeboten in Zürich erfahren, vom Verein Refugium und vom Nebelmeer, wo man das Tabu­thema Suizid nicht totschweigt, sondern darüber spricht, und sich selber die Chance gibt, die Trauer zuzulassen und verarbeiten zu können. «Jeder Mensch ist anders, jeder trauert anders. Ich finde es oft einfacher, mit Fremden über meine Gefühle zu reden als mit Freunden, wo ich mir oft nicht sicher bin, ob ich sie belaste.» Sie fühlt sich – wie viele Hinterbliebene – mit Schuldgefühlen konfrontiert.

Die 54-Jährige sorgt sich auch um ihre Kinder, die beide Mitte zwanzig sind, so alt wie sie damals, als sie ihre Mutter verlor. «Wir versuchen, jeder auf unsere Art, mit dem Suizid umzugehen und weiterzuleben.» Theobald arbeitet Vollzeit im kaufmännischen Bereich. Der strukturierte Berufsalltag hilft ihr, sich auf andere Dinge zu konzentrieren und auch heitere Gedanken wieder zuzulassen. «Ich weiss, dass ich viel Zeit brauche, und die möchte ich mir auch geben.»

Am 10. September ist Welttag der Suizidprävention

Diesen Samstag findet der weltweite Suizid-Präventionstag statt. Seit 2006 organisiert der Seelsorger Jörg Weisshaupt den Anlass in Zürich. Dieses Mal werden die Themen Leiden, Sterben und Hoffen musikalisch dargestellt. Saskia Jungnikl liest aus ihrem Buch «Papa hat sich erschossen». Beginn ist um 19 Uhr in der Johanneskirche an der Limmatstrasse 114.

Ab dem 13. September startet in Zürich eine neue Selbsthilfegruppe: jeden zweiten Dienstag von 19 bis 21 Uhr. Die ersten zwei Treffen sind offene Informationsabende. Auskunft über:
karoline.iseli@kirche-jugend.ch

Im Restaurant Glockenhof findet am ersten Dienstag im Monat von 19 bis 21 Uhr eine Gesprächsrunde für Hinterbliebene statt.

Nebelmeer heisst ein Netzwerk für junge Menschen, die einen Elternteil durch Suizid verloren haben. www.nebelmeer.ch

Der Verein Refugium ist ein Zufluchtsort für Hinterbliebene, die über das Thema Suizid sprechen möchten. www.verein-refugium.ch

 

 

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