mobile Navigation

Porträt

Julie Palloc, Harfenistin bei der Philharmonia Zürich. Bild: JS

Wie Zürcher Künstlerinnen und Künstler unter der Krise leiden

Von: Ginger Hebel und Jan Strobel

02. Juni 2020

Die Corona-Krise trifft Kulturschaffende besonders hart. Im Gegensatz zu Angestellten gibt es für sie keine Kurzarbeit. Viele Selbstständige, Kleinkünstler und Comedians sind auf sich alleine gestellt. Zürcher Musiker, Tänzerinnen und Tänzer aber auch Schauspielerinnen und Schauspieler können seit dem Lockdown ihre Jobs nicht mehr oder nur noch mit starken Einschränkungen ausüben. Nicht nur finanzielle Schäden sind durch die Krise entstanden. Viele Künstlerinnen und Künstler vermissen die Auftritte, den Austausch mit dem Publikum, den Applaus. Jetzt hat der Bundesrat grosse Lockerungen beschlossen. Ab dem 6. Juni sind private und öffentliche Veranstaltungen mit bis zu 300 Personen wieder erlaubt, sofern Schutzkonzepte bestehen. Dazu gehören unter anderem Konzerte, Theatervorstellungen oder Familienanlässe. 

Als es im Orchestergraben plötzlich still wurde

Julie Palloc und ihre Kollegen von der Philharmonia Zürich ahnten, dass etwas auf sie zukommen würde. Eben noch hatten sie die Wiederaufnahme von  Puccinis Oper «Bohème»  gespielt, ein Höhepunkt der Saison stand mit Verdis «Othello» bevor, aber die Nachrichten klangen düster. Die Mailänder Scala hatte ihren Betrieb bereits eingestellt, ebenso das Theater Basel. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch das Opernhaus Zürich nachziehen würde.

«Nach der Hauptprobe für ‘Othello’ wurde uns mitgeteilt, dass der Spielbetrieb eingestellt wird», erzählt die 47-jährige Harfenistin.  Dieser Zäsur löste die Routine plötzlich auf, «diese Klammer, die den Alltag zusammenhält», wie es Julie Palloc ausdrückt. Zu Beginn habe sich bei ihr auch ein wenig Erleichterung eingestellt. «Wir alle im Orchester hatten vor dem Lockdown eine unglaublich arbeitsintensive Zeit. Gleichzeitig war die Situation eine vollkommen fremde Erfahrung für alle. Angst stellte sich bei mir nicht ein. Das Leben musste neu organisiert werden, besonders  in der Familie», sagt die Mutter von zwei Töchtern. «Für meine Kinder war das natürlich eine goldene Zeit».

Ihre Harfe rührte die Musikerin für zwei Wochen nicht mehr an. «Es war das erste Mal in meiner ganzen Karriere, dass ich keine Musik mehr spielen durfte. Es war absolut verrückt.» Diese Stille nagte, je länger sie dauerte, an der anfänglichen Gelassenheit. «Die Ungewissheit, wie lange dieser Ausnahmezustand dauern würde,  dass möglichweise kein baldiges Ende in Sicht sein würde; dieser Gedanke bereitete mir schlaflose Nächte.» Gewiss war indessen eines: Künstler wie sie und ihre Kollegen würden bei der Bewältigung dieser Krise den «letzten Wagen im Zug» bilden.

Mit den jetzt beschlossenen Lockerungen wird nun auch im Orchestergraben des Opernhauses  Zürich die Musik zurückkehren. «Im Juli soll es in reduzierter Form  wieder Konzerte geben», sagt Julie Palloc. Was dann gespielt und wie das Orchester zusammengestellt sein wird, ist allerdings noch nicht festgelegt. «Ich hoffe inständig, dass eine Harfe benötigt wird.» JS

Weitere Informationen:
www.opernhaus.ch

 

Selber durchkämpfen

Die Bassistin Jojo Kunz nutzte die Krise für die Neugründung eines Trios. Bild:PD

«Dieser Spuk», dachte Jojo Kunz noch Anfang März, «wird bald wieder vorbei sein.» Gerade wollte die Zürcher Kontrabassistin im Stadtkeller Dietikon ein Konzert geben mit Tango, dieser Musik voller Emotion, voller Nähe. «Ich war in Fahrt und richtig berauscht vom Auftritt des Vortags», erzählt sie, «bis sich plötzlich ganz jäh alles änderte.»

Ihre Konzertdaten stürzten zusammen wie Dominosteine, ein Veranstalter nach dem anderen sagte die Termine ab. Chur, Winterthur, Zürich-Oerlikon – die Bühnen blieben verwaist, die Musik verstummte. Jetzt hatte das Virus gleichsam den Taktstock übernommen. Die existenzielle Frage hallte schnell nach: «Was mache ich jetzt? Wie halte ich mich über Wasser?»

Die 40-jährige Musikerin versuchte ohne Erfolg Erwerbsausfallentschädigung zu beantragen. Trotz dieses Rückschlags wusste sie: «Ich bin schon immer irgendwie über die Runden gekommen. Ich werde mich da selber durchkämpfen. Jetzt erst recht.» Als ausgebildete Pianistin war der Klavierunterricht in einer Schule einer der Rettungsanker. Auf der kreativen Ebene öffnete die Coronakrise neue Türen. «Ich wollte mir mit der Porträtfotografie schon immer ein zweites Standbein aufbauen. Das konnte ich jetzt angehen.» 

Und auch musikalisch stellte sich die Krise als fruchtbarer heraus, als anfangs gedacht. Zusammen mit dem Zürcher Saxofonisten und Flötisten Omri Ziegele und dem Kontrabassisten Herbert Kramis gründete Jojo Kunz das «Corona-Trio». Sie kramten während des Lockdowns Stücke hervor, schrieben sie um, komponierten Neues. So entstand ein Programm zwischen Jazz, Blues, argentinischer Folklore und Funk.

Mit der Wiedereröffnung der Bühnen ist das Licht am Ende des Tunnels erreicht und Jojo Kunz endlich zurück auf der Bühne. Am Samstag, 13, Juni,  um 11 Uhr, spielt das «Corona-Trio» im Rahmen der Samstagsmatinée in der Winterthurer Villa Sträuli. JS

Weitere Informationen:
www.villastaeuli.ch

Plagende Ungewissheit

Luciano Mercoli war gerade einmal vier Jahre alt, als er zum ersten Mal das Musical «Cats» sah. Er war total verzaubert von dieser bunten Wexlt. Als sein älterer Bruder Giuliano den Weg zum Musicaldarsteller einschlug, war auch sein Ziel klar. Für die Ausbildung zog Luciano, der in Zürich-Oerlikon aufwuchs, nach Hamburg. Heute, mit 33 Jahren, hat er sich in der Künstlerszene als Tänzer, Sänger und Schauspieler einen Namen gemacht. Er spielte unter anderem bei «Hair» mit und im Udo-Jürgens-Musical «Ich war noch niemals in New York» – auf kleinen und auf grossen Bühnen. Vor ein paar Jahren ergatterte er sich die Hauptrolle des «Johnny» im Musical «Dirty Dancing» – als einziger Schweizer des Ensembles. «Das war definitiv ein Höhepunkt. Wenn ich könnte, würde ich den ‹Johnny› gerne noch einmal spielen.» Doch seit Corona ist nichts mehr, wie es war.

Als Künstler muss man mit einer gewissen Ungewissheit leben, niemand weiss, wann das nächste Angebot für eine Rolle ins Haus flattert, «aber so unsicher und schwierig wie jetzt war es für uns Musicaldarsteller noch nie», sagt Luciano Mercoli. Als das Virus ausbrach, tourte er gerade mit «Flashdance» durch Österreich, Deutschland, Luxemburg und die Schweiz. «Wir mussten die Tour abbrechen, das war ein Schock.» Auch sein Engagement bei den Thunerseespielen diesen Sommer fällt ins Wasser. «Ich habe mich sehr auf ‹Io Senza Te» gefreut, erst recht, weil mein Bruder ebenfalls mitgespielt hätte." Derzeit befindet sich Luciano Mercoli in Hamburg. Er hält sich mit einem Job in einer Gärtnerei über Wasser. Viele Theater bleiben voraussichtlich bis im Herbst geschlossen. "Als Musicaldarsteller hat man befristete Verträge, nicht als Selbständiger. Das ist nicht ganz einfach." Er hofft ganz fest, dass er bald wieder das machen kann, was er liebt. Singen, tanzen, auf der Bühne stehen und in einer Rolle aufgehen. GH

Sie wünschen sich die Lockerheit zurück

Seit 33 Jahren sind die Musiker Charley Fritzsche und Sigi Drobar praktisch unzertrennlich. «Wir sind wie Siamesische Zwillinge. Ich sehe Sigi oft häufiger als meine Frau», sagt Charley und lacht. Er spielt Keyboard, Sigi unter anderem Gitarre, Mundharmonika, Elektrosax. Gefunden haben sich die beiden einst ganz klassisch – durch ein Zeitungsinserat. «Musiker sucht Musiker» stand darauf. Bereits beim ersten Telefongespräch waren sie sich sympathisch.

Als Duo Lucky Boys spielen sie auf Firmenfesten, an Geburtstagen und Hochzeiten, aber auch am legendären Knabenschiessen. Rund 120 Auftritte sind es pro Jahr, ihr Repertoire reicht vom nostalgischen Schweizer Liedchen bis hin zu fetzigen Songs der Rolling Stones. «Wir sind ein eingespieltes Team, haben schon alles ausprobiert. Am schönsten ist die Stimmung immer in den Quartierspünten», sagt Charley Fritzsche. «Doch Lokale mit Live-Musik werden leider immer seltener.»  

Die Corona-Krise trifft sie tief im Musikerherz. «Es wurden viele Engagements abgesagt, auch zahlreiche Hochzeiten wurden auf nächstes Jahr verschoben.» Ihren Spielplan passen sie auf der Homepage luckyboys.ch laufend an. Ab kommendem Samstag sind Veranstaltungen mit maximal 300  Perosnen wieder erlaubt, somit auch Familienfeiern und Konzerte. Ist das ein Trost? "Es ist schön, wenn wir wieder spielen können. Doch die Lockerheit ist etwas verloren gegangen, die Stimmung ist verhalten, die Leute sind Vorsichtig. Auch bei den Veranstaltern spürt man noch eine gewisse Zurückhaltung", sagt Charley Fritzsche. Die Künstler hoffen, dass sie dem Publikum bald wieder einheizen dürfe. "Die Musik lebt von den Menschen."  GH

 

 

 

 

zurück zu Porträt

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
5.0 von 5

Leserkommentare

Keine Kommentare