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Porträt

Schriststeller S. S. Ciro: "Es gibt nur etwas, das härter ist, als einen Roman auf Deutsch zu schreiben: Die Arbeit in einem Bergwerk." Bild: JS

Zürcher Abgründe zwischen zwei Buchdeckeln

Von: Jan Strobel

10. Februar 2015

Vor 20 Jahren wurde die offene Drogenszene in Zürich endgültig geräumt. Jetzt hat der serbisch-schweizerische Schriftsteller S. S. Ciro einen Roman über den damaligen Drogensumpf geschrieben - seinen ersten in deutscher Sprache.

«Das Aroma der einzigartigen Hölle wird Ihre Nase schon von weitem kitzeln: leere Büchsen, Folien, eingebranntes Öl, Fäkalien, Watte, Fischdosen, Obstschalen, Binden, Eierschalen, Kondome, Urin, Hundedreck, abgenagte Knochen, Fischköpfe, Verwüstung...» Diese Hölle, sie manifestiert sich für den serbisch-schweizerischen Schriftsteller S. S. Ciro im «Park der Hoffnungslosigkeit», im Platzspitz, diesem Tumor, der Ende der 80er Jahre im Herzen der Stadt schwärte, um sich danach wie eine Metastase über den Letten auszubreiten. Die offene Drogenszene ist die Bühne, auf der sich die Figuren in Ciros Roman «Zürcher Geschnetzeltes» in einem dunklen Reigen bewegen.

Der 68-Jährige skizziert eine Welt, in der die Moral aufgelöst wurde wie Heroin auf einem Löffel. Jeder wittert in dieser Geschichte das grosse Geschäft mit der Sucht. Clans wie die Bogunovcis, die den Zürcher Drogenmarkt beherrschen, Verbrecher wie Milan, genannt «der Slowake», der sich seine eigene Bande mit ihm ergebenen Junkies und Kleinkriminellen aufbaut, um einen besonders lukrativen, wie gewalttätigen Überfall durchzuziehen. Und natürlich mischt bei diesem dreckigen Spiel auch ein angesehener, wenn auch höchst korrupter Anwalt mit, der sich mit der Verteidigung der Drogenbarone ein kleines Vermögen verdient. Zwischen Platzspitz und Schiessübungen treffen sich die Bosse mit ihren Clanmitgliedern zu einem gediegenen Zürcher Geschnetzelten in einem traditionsreichen Feinschmeckerlokal. Schriftsteller Ciro legt hier also gewissermassen eine Zürcher Variante der amerikanischen Erfolgsserie «Breaking Bad» vor. Allerdings: In die Fiktion hat er tatsächliche Lebensgeschichten eingewoben. Für seinen Roman befragte er über dreihundert Süchtige. «Viele Autoren oder Politiker sahen die Süchtigen nur aus der Ferne, ich wollte aus dem Blickwinkel der Betroffenen schreiben. Ich habe mich immer gefragt: Was für Menschen stecken hinter diesen kaputten Biografien?», erzählt S. S. Ciro, der seinen bürgerlichen Namen nicht veröffentlicht sehen will.

Geschichten aus dem wahren Leben
Die kaputten Biografien, sie traten häufig wie von selbst an ihn heran. Zur Zeit der offenen Drogenszene arbeitete Ciro als Concierge in einem billigen Hotel in der Zürcher Innenstadt. «Viele Junkies oder Drogenschieber nahmen sich in diesem Hotel ein Zimmer, und natürlich wollte ich irgendwann die Hintergründe darüber erfahren, was da vor sich ging. Es kamen jeweils auch vermögende Gäste, die sich mit Strichjungen vergnügten. Ich wollte alles erfahren, und diese Gestalten begannen, mir ihre Schicksale zu beichten.» Ciro, der damals im Kreis 5 wohnte, fing an, auch auf der Strasse Drogensüchtige anzusprechen. «Statt eines Stutz gab ich ihnen 20 Franken, wenn sie mir dafür ihre Biografie erzählten.» Denn: Die besten Geschichten, meint der Schrifststeller, schreibe immer noch das wahre Leben. «Alles, was du danach brauchst, ist dein Gehirn - und die Fähigkeit, mit der deutschen Sprache umzugehen. Über 40 Jahre lang, seit ich aus Jugoslawien in die Schweiz kam, habe ich davon geträumt, einmal ein Buch in Deutsch zu publizieren», sagt Ciro, der bisher vier Werke in serbischer Sprache veröffentlicht hat. «Es gibt nur etwas, das härter ist, als einen Roman in Deutsch zu schreiben: die Arbeit in einem Bergwerk», lächelt er, und immer wieder brodeln in ihm während unseres Gesprächs die Emotionen hoch, wenn er über seine Liebe zur Literatur spricht. Sie sei es, die ihn über so manchen Schicksalsschlag hinweg gerettet habe.

Sie gab ihm auch als junger Mann Orientierung, Ende der 60er-Jahre, während der Diktatur des Tito-Regimes in Jugoslawien, als die Zensurbehörde die Veröffentlichung seiner ersten Kurzgeschichten unterband. Seine Fantasie konnte die politische Indoktrination nicht brechen. Die Worte des serbischen Dichters Milos Crnjanski wiesen den Weg: Ein Poet, der nicht gelitten hat, nicht gelebt, wird immer unwirklich sein, kälter und härter als Kristall. Erst in der Schweiz war es dem gelernten Hotelfachangestellten möglich, seine Geschichten konkret auf Papier zu bringen und sie auch für seine serbische Leserschaft zu verlöffentlichen. Ciro studierte nebenbei die Werke von Friedrich Dürrenmatt, las sich durch die Romane von Max Frisch, analysierte die Sprache Thomas Manns, während er mit journalistischer Akribie die Geschichten der Junkies zu dokumentieren begann. Antrieb für diese schriftstellerische Grubenarbeit gab ihm auch sein Lehrer aus Kindertagen. «Du wirst einmal ein grosser Künstler», hatte der ihm gesagt, bevor er aus politischen Gründen von der Schule verschwand. Ciro kämpft mit den Tränen, wenn er sich an diesen Mann erinnert. Auch dank ihm ist Ciros Traum Wirklichkeit geworden.

S.S. Ciro: «Zürcher Geschnetzeltes», Roman, 307 Seiten. Erhältlich ist das Buch im Orell Füssli am Bellevue, bei Buch + Kunst Nievergelt in Oerlikon und in der Buchhandlung Lüthy im Sihlcity. 

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