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Reportage

Schlag auf Schlag: Bei einer 1.-August-Party flogen die Fäuste. Aber wer hat angefangen? Bild: PD

Alles nur Notwehr?

Von: Isabella Seemann

29. März 2016

IM GERICHTSSAAL Eine 1.-August-Feier zwischen einem eingebürgerten Türken und einem Schweizer Naturarzt artet in einer Schlägerei aus. Am Obergericht geht es in die dritte Runde.

Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine ist Hassan K.* (38), ein knallharter Macho. 1,83 Meter gross, 84  Kilo schwer, mit Rossschwanz, Lederjacke und grossen Pranken. Ein Mann, der zupacken kann, Metallbauschlosser von Beruf. Das Vorstrafenregister des eingebürgerten Türken umfasst etliche Posten, darunter Gewalt gegen Behörden und Beamte, Fahren in angetrunkenem Zustand, Hausfriedensbruch, Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz.

Der andere ist Urs F., 47, Naturarzt und Unternehmer für Komplementärmedizin an der Goldküste. Schmal, geschniegelt, gescheitelt, mit Brille und Polohemd. In seiner Freizeit betreibt er asiatische Meditation. Alle Klischees passen zusammen: ein ungehobelter Täter, ein empfindsames Opfer.

Am 1. August 2009 trafen die beiden unterschiedlichen Männer in einer Villa am Zürichsee erstmals aufeinander. Urs und seine Partnerin organisierten ein Fest zum Nationalfeiertag, bei dem Hassans Schwester Fatima ihre Bilder ausstellen durfte. Bekannte und Verwandte beider Seiten waren eingeladen. Man grillierte, konversierte und ging im See schwimmen. Plötzlich brannten Hassan die Sicherungen durch. Er schnauzte seine Frau an. Die Frau brach in Tränen aus. Er packte sie mit der einen Hand, auf den anderen Arm nahm er das Kind und verliess die Party aufgebracht. Urs lief ihnen hinterher, fragte, was los sei und ob er seine Frau nicht anständig behandeln könne. Da habe Hassan die Faust geschwungen und auf des Therapeuten Kopf gehauen. Mindestens dreimal. Er schlug Urs’ Kopf gegen eine Plakatwand und verfolgte ihn, über eine 2 Meter hohe ­Mauer springend, in den Innenhof, wo er ihn erneut verprügelte. Urs ­erlitt eine Halswirbelverletzung und eine traumatische Hirnverletzung. Das erstinstanzliche Gericht sprach Hassan der versuchten schweren Körperverletzung schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren.

Vor Obergericht gehen die zwei Männer, flankiert von ihren Rechtsvertretern, in die dritte Runde. «Ich will einen Freispruch», sagt Hassan. Alles sei ganz anders gewesen. «Er hat mir zuerst ins Gesicht geschlagen, super aggressiv war er.» Ja, er habe eine kleine Auseinandersetzung mit seiner Frau gehabt. «Immer, wenn ich schwimmen war, schlich er um meine Frau herum», empört sich Hassan. Aber er sei keiner, der seine Frau als Eigentum betrachte. Er habe dem anderen nur gesagt, dass er «sich verpissen» soll. Aber der andere habe nicht von ihm abgelassen. Er, Hassan, sei ein Wrack, auch wenn man es ihm nicht ansehe. Schwere Schilddrüsenerkrankung. Hassan erzählt die Leidensgeschichte so ausführlich, damit man versteht, dass dieser Mensch sich gar nicht leisten kann, was ihm vorgeworfen wird. Um sich zu verteidigen, habe er nur einmal zurückgehauen.

Im Zweifel für den Angeklagten

Acht Zeugen haben die Auseinandersetzung beobachtet. Vier sagten im Sinne des Täters aus, vier im Sinne des Opfers. Keiner war unbefangen. Es standen sich zwei Familien- und Freundeskreise mit ihren eigenen Wahrnehmungen und Verstricktheiten gegenüber.

«Es steht Aussage gegen Aussage», sagt der Oberrichter. «Keiner der Zeugen ist glaubwürdiger als der andere.» Angesichts der vergleichsweise geringen äusseren Verletzungen beim Kläger sei die behauptete massive Gewalt in Zweifel zu ziehen. Vielmehr sei aufgrund der bezeugten Augenverletzung des Handwerkers davon auszugehen, dass der Gastgeber zuerst zugeschlagen habe. Die Schläge des Beschuldigten seien dann «noch innerhalb seines Notwehrrechts». Das Obergericht hebt das erstinstanzliche Urteil auf. «Ein klassisches in dubio pro reo.» Das heisst: Freispruch für Hassan.

* alle persönlichen Angaben geändert

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