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Reportage

Angst vor dem Spanner von vis-à-vis

Von: Isabella Seemann

01. Oktober 2013

«Stellen Sie sich manchmal nackt ans Fenster? Manipulieren Sie an Ihrem entblössten Geschlechtsteil, wenn die Nachbarin auf dem Balkon steht?», will der Richter wissen. «Seich, ich bin ein freundlicher, kommunikativer Mensch und winke bloss mal rüber. Ich belästige keine Nachbarn. Ich habe ein unkompliziertes Verhältnis zu ihnen.»

Der das antwortet, der Angeklagte Ruedi H.*, ist ein unauffälliger Allerweltsmensch. 48 Jahre alt, mittelgross, mittelschlank, mausbraune Haare, Jeanshose, Jeansjacke. Als Beruf gibt er Büezer an, auch Gärtner und Hausabwart sei zutreffend. Zudem betätige er sich künstlerisch, als Maler. «Und ich bin arbeitslos», beschliesst er die Aufzählung. Ausser­dem frönt er in grossem Stil der Selbstbefriedigung. Das würde niemanden interessieren, täte Ruedi dies nicht so offensichtlich für ein eingebildetes Publikum.

Während mindestens eineinhalb Jahren musste die Nachbarin in der Wohnung vis-à-vis immer wieder erleben, wie Ruedi H., kaum dass sie den Balkon betrat, zu seiner Lieblingsbeschäftigung griff. Das wurde ihr langsam zum Wahn. Ob beim Wäscheaufhängen oder gemütlichen Aperölen auch mit Besuch auf dem Balkon – es wiederholte sich das nämliche Ritual beim Nachbarn. Ruedi zog die Vorhänge beiseite, öffnete seinen Hosenladen, packte aus, was es auszupacken gibt, «zeigte sich in schamverletzender Weise», wie in der Anklageschrift steht, «und manipulierte in erheblichem Masse an seinem Geschlechtsteil», während er mit den Augen die junge Nachbarin fixierte. Meist geschah dies abends. Sogar eine Spotlampe soll Ruedi H. auf sein Tun dabei gerichtet haben. Nachbarin Angelika fühlte sich belästigt. Sie mochte nicht mehr auf den Balkon gehen, scheute den Blick aus dem Fenster Richtung Nachbarhaus und zog die Rolläden auch tagsüber runter.

Dabei erfreute den masturbierenden Nachbarn offenbar auch ein grös­serer Publikumskreis. Es gibt also Zeugen. Verwandte, Freunde von Angelika, Nachbarn, darunter sogar ein pensionierter Polizeibeamter. Da hilft kein Leugnen. Ruedi H. ist exhibitionistischer Handlungen angeklagt. Er ist geständig, vor Gericht wiegelt er nun aber ab, verharmlost, eiert herum. Er lacht, ein kurzes Bellen. «Ich hab das erst mal für einen schlechten Witz gehalten», sagt er. «Für mich ist das eine glatte Fantasie. Ich habe nicht den geringsten Hang zum Exhibitionismus in der Öffentlichkeit. Ich finde es unmöglich, dass so was in meiner Akte landet. Das Einzige ist, dass ich vielleicht, wenns in der Wohnung heiss ist, mal in den Unterhosen koche.»

«Ich hatte sofort eine Erektion»

Ruedi H. wirkt hilflos, verloren, bockig und schleudert bedeutungsschwangere Blicken um sich. «Ich bin nun mal für Beobachtungen anfällig, ich hatte sofort eine Erektion», schwadroniert der Sittenstrolch charmant lächelnd weiter. «Und bei einer Blondine, da macht es bei mir sofort Klick.» Er könne nichts dafür, «ich habe häufig Erektionen und kämpfe vergeblich dagegen an.»

Sein Verteidiger begründet dessen Verhalten mit der Kindheit. Herr H. sei bei einer strenggläubigen, dominanten Mutter aufgewachsen. Der Vater existierte nur am Rande. «Männliche Personen und deren Sexualität sind von der Mutter abgewertet worden.» Der Angeklagte kompensiere diese Erfahrung durch exhibitionistische Handlungen. «Durch das Zeigen seiner männlichen Potenz steigert er sein Selbstwertgefühl», psychologisiert der Verteidiger. «In Stresssituationen kann es mal vorkommen, dass ich so was mache, wenn ich mich ganz unten fühle», gibt der Angeklagte schliesslich zu. «Würde ich mir stattdessen in der Nase bohren, wäre das auch nicht schön, aber es würde eher toleriert werden.»

«Ich fühle mich danach beschissener»

Der Richter schüttelt den Kopf: «Man kommt immer wieder in Stresssituationen im Leben, wollen Sie da jedes Mal Frauen belästigen, oder welche Perspektiven haben Sie?» – «Aus meiner Perspektive ist das genau so», erklärt der Angeklagte. «Es wird mir immer unterstellt, ich mache das aus Geilheit, aber ich erlange dadurch keine Befriedigung. Im Gegenteil, hinterher fühle ich mich noch beschissener. Mir geht es um Anerkennung.» Auf die Frage nach Therapien nach der letzten Verurteilung spricht er vage von einer Heilerin und dass er irgendwann einmal in einer Klinik vorgesprochen habe.

Schon mal hatte er Frauen sexuell belästigt, versuchte er, einer Frau zwischen die Beine zu fassen. Herr H. habe genügend Anlass, sich vor einer Wiederholung zu hüten: «Die Bewährung läuft, und auch durch dieses Urteil gibt es Druck. Sie sollten Ihre Therapie machen und nicht an sich rumfummeln, wenn andere Leute da sind.» Und er solle sein unkompliziertes Verhältnis zu den Nachbarn in ein distanziertes verwandeln.

16 Handlungen exhibitionistischer Couleur konnten Ruedi H. nachgewiesen werden. Der Staatsanwalt beantragt 120 Tagessätze à 40 Franken Strafe. Der Richter mildert auf 80 Tagessätze à 40 Franken. Sodass auf jede nachgewiesene Tat praktisch 200 Franken kommen.

* alle Namen geändert

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