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Reportage

Die Zeppelinstrasse beim Schulhaus Milchbuck – wie sie sich heute darstellt. Bild: H. Wehrli

Auf das Luftschiff folgten Papierdrachen

Von: Urs Hardegger

13. Dezember 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Zeppelinstrasse.

«In der Siedlung Hofgarten bin ich seit über 85 Jahren zu Hause. Die Zeppelinstrasse war der Ort, an dem ich in meiner Kindheit viele Stunden verbrachte.» Wenn Liselotte Helberg von den früheren Zeiten erzählt, mischt sich leise Wehmut in ihre Stimme: «Die Zeppelinstrasse gehörte damals uns, da spielten wir Böckligumpen und Springseilen.» Von einer Kindheit fern von Dauerförderung und organisierter Freizeitgestaltung, dafür mit mehr Freiraum und Zeit für Langeweile, erzählt sie, von der Kargheit und den bescheidenen Möglichkeiten, die das Leben der Kinder vor und während des Zweiten Weltkriegs bestimmten.

Es ist kühl. Während wir zum Schulpavillon hochspazieren, beobachte ich ein paar Kinder, die sich gegenseitig necken. Die Freude an Spiel und Spass hat anscheinend die Jahre überdauert. Wir blicken auf die Spielwiese der Schulanlage. «Da, wo wir stehen», fährt meine Begleiterin fort, «war früher der Drachenhügel. Hier liessen die Buben ihre Drachen steigen, hier pflückten wir die Muttertagssträusschen, und im Winter schlittelten wir.»

Faszinierend, wie Frau Helberg der vergangenen Zeit Leben einhaucht, von der Gemüsefrau berichtet, dem ersten Migros-Wagen und dem Milchfuhrwerk, das von einem Schimmel gezogen wurde. «Was der so fallen liess, sammelten wir im Kesseli als Dung für die Balkonblumen», fügt sie schmunzelnd hinzu und fährt fort, während wir weitergehen: «Man kann es kaum glauben, wie sich ein Quartier im Verlauf eines Lebens verändert. Hier nach der Siedlung, da hörte die Stadt einfach auf, nur noch Wiesen und Wälder.»

Halb Palast, halb Kaserne

Die Zeppelinstrasse, das war der Kosmos der kleinen Liselotte. Hier besuchte sie den Kindergarten, bevor sie im Schulhaus Milchbuck in die Primarschule eintrat. Das monumentale Gebäude war bei seiner Einweihung heftig umstritten. Ein «Zwitterding von Palast und Kaserne», ­alles andere als «ein Haus der ­Erziehung», kritisierten einige Architekten. Doch die Grösse störte die Primarschülerin nicht. Im Gegenteil, sie fühlte sich wichtig darin. Gestört hat sie allerdings, dass beim Singen des Lieds «Ich bin ein Schweizer Knabe» die Mädchen vergessen gingen. Später studierte Frau Helberg Jura. Anschliessend war sie am Gericht, auf der Erziehungsdirektion und lange Jahre im Fürsorgeamt der Stadt Zürich tätig.

Die schwierigste Zeit in ihrem Leben? «Das war der Krieg», antwortet meine Begleiterin, ohne zu zögern, «die Ängste und die Rationierung der Lebensmittel». Mit andern Mädchen zusammen habe sie aus Resten gestrickt und genäht – stolz darauf, etwas fürs Vaterland tun zu können.

Den Namen verdankt die Quartierstrasse in Unterstrass, die von der Hofwiesenstrasse zur Schaffhauserstrasse führt, übrigens Graf Zeppelin, der am 1. Juli 1908 mit seinem lenkbaren Luftschiff die Stadt überflog. Das war ein Ereignis. Überall begaben sich die Menschen ins Freie, um die Riesenzigarre am Himmel zu bewundern. Ein paar Buben hätten «in heilloser Aufregung» in die Höhe gestarrt und ununterbrochen «Zeppelin, Zeppelin!» gebrüllt, hielt die «Neue Zürcher Zeitung» in ihrer Abendausgabe fest.

Doch wir beide blicken beim Teetrinken nicht hinauf, sondern zurück. Eine Geschichte reiht die 85-Jährige an die andere. Geschichten, geformt aus Erinnerungen. Dem einzigen Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann, wie Jean Paul einmal schrieb. Vielleicht auch, weil den Erinnerungen, über die Zeit das Ungewisse und Bedrohliche abhandenkommt. Was sie von der heutigen Zeit wünschen würde, frage ich sie zum Schluss. «Offenere Herzen und weniger Vorurteile», meint sie lächelnd. Schöner hätte ich den letzten Beitrag vor Weihnachten auch nicht abschliessen können.

Quellen:
Theodor Thomann. In Werk 1932/5, NZZ vom 1. Juli 1908.

Lesen Sie am 11. Januar 2017 den Bericht zum Denzlerweg.

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