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Reportage

Geschichte im Fluss: In der Allmend rauscht die Sihl über Schwellen, die an die früheren Wehre und Fabrikkanäle erinnern. Bilder: PD

Das Aschenputtel unter Zürichs Gewässern

Von: Isabella Seemann

18. Januar 2022

Sihl: Mit 69 Kilometern Länge ist die Sihl ein vergleichsweise kurzer Fluss, der jedoch abwechslungsreicher kaum sein könnte, wie ein neues Buch des Zürcher Historikers Jean-Daniel Blanc zeigt. Ihren Ursprung hat die Sihl im Schwyzer Gebirge, sie prägt mehrere Quartiere Zürichs, ehe sie sich im Herzen der Stadt mit der Limmat vereint.

Der prächtig blaue Zürichsee und die liebreizende Limmat – mit diesen beiden Gewässern zeigt sich die Stadt gern auf Fotografien. Anders verhält es sich mit der Sihl. Sie steht im Schatten der beiden Schönheiten. Sie ist quasi das Aschenputtel der Stadtzürcher Gewässer. Im Schwyzer Chrähloch, das in eine riesige steile Schutthaldenmulde beim Drusberg eingebettet ist, liegt ihre Urquelle; Tümpelquellen, aus denen das empordringende Wasser Miniatur-Schlammvulkane emporschleudert.
Über Jahrhunderte diente sie als billige Arbeitskraft: Aus dem Sihltal wurde Holz durch den Sihlkanal oberhalb des Sihlhölzlis bis fast auf die Höhe des heutigen Löwenplatzes geflösst, wo man es in Sägereien verarbeitete. Papierfabriken, Bierbrauereien, Spinnereien und Ziegelmanufakturen produzierten mit der Kraft des Sihlwassers; dieses wurde von Leimbach bis ins Stadtzentrum durch Kanäle geleitet.

Frech und ungestüm

Bis heute bietet die Sihl noch vielenorts einen armseligen und hässlichen Anblick, wie an der Sihlhochstrasse, wo sie exzessiv mit Strassen und Brücken belegt ist. Auf weite Strecken ist sie wenig bis gar nicht zugänglich. Und manchmal kommt sie, wenn es in den Bergen gewittert hat, grusig schlammbraun, voller Äste und sogar mit Baumstämmen nach 69 Kilometern Reise durch Schwyz, Zug und das Sihltal in der Stadt an.
Tod und Verderben sind gar mit ihr verbunden: Über die Sihl führt die prominente Sihlbrücke, früher auch «Seufzer-Brücke» genannt: Über sie waren in früheren Zeiten die zum Tod Verurteilten zur Hinrichtungsstätte im Sihlfeld geführt worden. Frech und ungestüm ist die Sihl und heischt immer mal wieder mit bösen Streichen um Aufmerksamkeit.

Zwar verlor der Fluss mit den zwischen 1850 und 1880 erfolgten Korrektionen und Verbauungen sowie mit der Aufstauung des Sihlsees im Jahr 1937 viel von seiner gefährlichen Kraft. Dennoch ist sie gefürchtet: Wurde eine Kälteperiode von plötzlichem Tauwetter abgelöst, konnten sich im Unterlauf der Sihl riesige Eismassen ansammeln. Im März 1947 drohten Eisbrocken bei der Postbrücke den Durchfluss unter dem Bahnhof zu verstopfen, ein Unglück konnte nur knapp verhindert werden. Am 21. August 2005 entging die Stadt ebenfalls nur mit Glück einem Hochwasser mit Milliardenschäden. Der Pegel der reissenden Sihl reichte beim Durchfluss unter dem Hauptbahnhof bis fast an die Dachkante. Wäre das Gewitter nicht abgedreht, hätten der Hauptbahnhof und die Zürcher Innenstadt bis zu einem halben Meter unter Wasser gestanden. Seither hat der Kanton den Hochwasserschutz sukzessive ausgebaut und baut ihn noch weiter aus. Denn grosse Teile von Zürich liegen auf einem natürlichen Schwemmkegel der Sihl.


Steht sie nicht gerade in den Schlagzeilen wegen ihrem ungestümen Naturell, fristet die Sihl jedoch eher ein unscheinbares Dasein. «Die wilde und die zahme Sihl» sind Begriffe, die in Zürich während Jahrhunderten verwendet wurden, um den Hauptfluss einerseits, den kanalisierten Nebenlauf andererseits zu bezeichnen. Das Wortpaar ist auch titelgebend für ein neues Werk des Zürcher Historikers Jean-Daniel Blanc, das kürzlich im Hier und Jetzt Verlag erschienen ist.


Obgleich er in der Nähe der Sihl, in Wollishofen, aufgewachsen ist und sich viele Kindheitserinnerungen mit dem Fluss verbinden, packte ihn die Neugier erst, als er in eine Siedlung an der Limmat zog, erzählt Jean-Daniel Blanc. «Nach tagelangen Regenfällen überstieg die Limmat das Ufer und bedrohte auch unsere Keller. Es war offensichtlich, dass die braunen Wassermassen, die ganze Baumstämme mitführten, nicht aus dem Zürichsee, sondern aus dem Sihltal stammten. Mein Interesse an der wilden Seite des Flusses war geweckt.»

 


Jean-Daniel Blanc folgte dem Lebenslauf der Sihl und erzählt in «Die wilde und die zahme Sihl – Eine Landschaft im Fluss der Zeit» die bewegten Geschichten dieses Flusses, die von Pilgerströmen und Bürgerkriegen, von Landflucht und Industrialisierung, von Grenzen und Verbindungen, von Naturschutz und Disneylandisierung handeln und davon, wie er die Kulturlandschaften und Städte, durch die er fliesst, prägte und noch immer prägt. Dabei gelingt es Jean-Daniel Blanc auf anschauliche Weise, die vielen unterschiedlichen Facetten der Sihl, die Gegensätze und Widersprüche, vom abgelegenen Quellgebiet bis zur Mündung in der Limmat, aufzuzeigen.
Die Bezeichnung «Sylaha» für den Fluss findet sich erstmals in einem Dokument von 1018.

Über die Bedeutung dieses Namens kursieren verschiedene Interpretationen, die ein weites Spektrum von «kleines Gewässer» über «wildes Wasser» bis «die Starke» abdecken, hält Historiker Jean-Daniel Blanc fest. «Mir scheint das bezeichnend, denn die Sihl entzieht sich einer eindeutigen Festlegung und bleibt widersprüchlich.»


Zu den musischen Entdeckern der Sihl gehört kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe, der das Sihltal zweimal besuchte und in verschiedenen Aufzeichnungen erwähnte. Eines seiner Erlebnisse fand sogar Eingang in die Weltliteratur. In «Dichtung und Wahrheit» ist nämlich die Rede «vom düsteren Tal, wo hinter dem Albis die Sihl strömend herabschiesst» und von einer Gruppe junger Männer, die an verborgener Stelle nackt badeten «und für ihr sittlich-empörtes Verhalten» mit Steinen beworfen wurden. Ob der Dichterfürst selber unbekleidet ein Bad nahm, hält er dabei offen.


Weitere Informationen:

Jean-Daniel Blanc:
«Die wilde und die zahme Sihl –
Eine Landschaft im Fluss der Zeit»,
Verlag Hier und Jetzt
ISBN 978-3-03919-547-3

 

 

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