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Reportage

Sie stricken den längsten Schal Zürichs: Hanny Attinger, Dorit Haug, Gertrug Sturny und Margrit Galimberti (v.l.n.r).

Das grosse Stricken: Diese Frauen sehen mit den Händen

Von: Ginger Hebel

28. Juni 2017

Die Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnheims Mühlehalde haben ein gemeinsames Ziel: Sie stricken den längsten Schal Zürichs mit einer Länge von 100 Metern. Das Besondere daran: Sie sind alle sehbehindert oder blind.

«Wir sind eine glatte Runde», bringt es Dorit Haug auf den Punkt. Die sehbehinderte Dame mit den roten Lippen strickt mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Wohnheims Mühlehalde am längsten Schal Zürichs. Es ist ein Gemeinschaftswerk, das sie verbindet. Angefangen haben sie letzten Februar. Fünf Stunden stricken sie pro Woche. Einzelstücke von je 1,2 Meter Länge werden zu einem kunterbunten Rekordschal zusammengenäht, aktuell misst er 80 Meter.

Dorit Haug (92) hatte schon immer ein Flair für Mode und Farben und bringt sich gerne künstlerisch ein. Sie strickt während sie spricht, denn sie beherrscht die Handarbeit blind und bemerkt jeden Fehler sofort.

Blind stricken

Früher strickte Hanny Attinger immer. Für ihren Mann, ihre Kinder und ganz oft für sich selber, später auch für ihre Enkel. Sie strickte Pullis in allen Farben, mit viel Liebe und noch mehr Freude. Doch irgendwann blieb das Stricken auf der Strecke. Als Hausfrau kümmerte sie sich um die Familie und den Bauernhof. Als ihr Mann starb, kümmerte sie sich allein um Haus und Garten, auch dann noch, als ihre Sehkraft immer mehr nachliess und sie erblindete. «Das kam alles schleichend», erzählt die 85-Jährige. Sie stellt – wie alle hier – hohe Ansprüche an sich selber. «Ich spüre es, wenn ich eine Masche fallen lasse.»

Frühere Generationen hatten immer gestrickt, gewebt oder genäht, dann aber aufgehört, weil die Augen nicht mehr mitmachten. «Wir unterstützen unsere Bewohnerinnen und Bewohner dabei und stricken mit ihnen», sagt Angela Giger. Sie leitet das Textil-Atelier in der Mühlehalde und auch das Schal-Projekt. Wenn das Sehvermögen schwindet, man nicht mehr Fernsehen oder lesen kann, kann die Arbeit mit den Händen ein schöner Zeitvertreib sein. «Ich bewundere sie dafür, wie gut sie stricken, obwohl sie kaum noch etwas oder gar nichts mehr sehen», sagt Mühlehalde-Mitarbeiter Severin Liechti.

Alfred Tyrluch webt Schnüre zu einem Schal. Lismen tut er nicht gern, weben hingegen schon. Hat er es im Wohnheim gelernt? «Nein, im Kindergarten», sagt der 91-Jährige und lacht. Er lebt seit sechseinhalb Jahren im Zürcher Wohnheim Mühlehalde für blinde- und sehbehinderte Menschen und erzählt gerne von früher, wie er als Mechaniker seine Brötchen verdiente und 35 Jahre lang Strassenbeleuchtungen montierte. «Damals, in den Fünfzigerjahren, haben wir noch von Hand geschaufelt.»

Schal für den guten Zweck

Heute macht er im Wohnheim bei allen möglichen Aktivitäten mit, ob basteln, filzen oder turnen. Am liebsten aber geht er auf Beizen-Tour, die Severin Liechti einmal im Monat organisiert. «Wir Männer sind hier in der Minderheit, da muss ich mal raus und wieder in den Ausgang wie früher», sagt Alfred Tyrluch. Beim Weben werden bei Ursula Obrecht alte Erinnerungen lebendig. Die 98-Jährige arbeitete ihr halbes Leben in Kinderheimen. «Zu sehen, wie die Menschen aufblühen, wenn sie etwas machen, was sie gerne machen, das ist schön», sagt Severin Liechti.

Die Frauen stricken unermüdlich. Auf eines legen sie alle grössten Wert: Dass die Arbeit einen Sinn macht. Am Mühlehalde-Fest vom 2. September wird der längste Schal Zürichs zu Ende gestrickt und später für einen guten Zweck gespendet. Die Ideen reichen von Decken und Teppichen aus Schalstücken bis hin zu Schalspenden für Bedürftige. Das Ziel bis dahin: 100 Meter.

Weitere Informationen: Am 2. September findet das Mühlehalde-Fest mit Wettstricken statt. Man darf vorbeikommen und mitstricken. Stiftung Mühlehalde, Witikonerstrasse 100, zwischen Klusplatz und Witikon. www.muehlehalde.ch

 

 

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