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Reportage

Die Alte Kirche am Vorderberg geht zwischen den Strassen fast unter. Bild: PD

Das zerschnittene Herz von Fluntern

Von: Jan Strobel

07. Juli 2015

Seit Jahrzehnten vermisst Fluntern seinen einstigen Dorfkern. Pläne für eine Neuplanung scheiterten bis heute. Ein Augenschein.

In Zürich, behauptete kürzlich ein Besucher aus Deutschland boshaft, hätte es gar keines Kriegs bedurft, um das Stadtbild nachhaltig zu schädigen. Dem Autor ging das subjektive Urteil natürlich nah. Doch so unrecht hatte der Besucher zumindest stellenweise nicht. Denn vieles wurde in Zürich ab den 50er-Jahren ja tatsächlich einfach plattgemacht – oder der Fortschrittseuphorie einer autogerechten Stadt geopfert. Wer erinnert sich zum Beispiel noch an das idyllische Quartier rund um das Werdgässchen in Aussersihl? Seit den 70ern steht dort das Werd-Hochhaus.

Unendliche Geschichte
Manchmal zerschnitten diese Stadtplanungen auch das Herz eines ganzen Quartiers. So geschah es zumindest in Fluntern. Ich treffe Martin Kreutzberg vom Quartierverein vor dem Restaurant Vorderberg, einem stattlichen Riegelbau aus dem 17.  Jahrhundert. Unser Blick schweift hinüber zur Alten Kirche mit ihrem pittoresken Türmchen. Ein Dorfkern wie aus dem Bilderbuch, wären da nicht die acht Strassen, die hier zusammentreffen. Diese alten Häuser wirken wie eine isolierte Insel mitten in einem Fluss aus Asphalt, verbunden mit den Ufern lediglich durch ein paar Fussgängerstreifen. «Diese Insel», sagt Kreutzberg, «ist das sichtbare Beispiel einer jahrzehntelangen Fehlplanung.» Seine Worte sind an diesem Morgen nur schwer zu verstehen; der Durchgangsverkehr von Dübendorf und der Forch wälzt sich gerade hinunter ins Stadtzentrum. An Wochenenden ist es dann jeweils umgekehrt. «Da staut sich der Verkehr der Zoobesucher in die Gegenrichtung. Glücklich ist mit diesem Zustand natürlich bis heute niemand. Und das lokale Gewerbe leidet unter dem Durchgangsverkehr. Seit 1973 hat Fluntern kein richtiges Zentrum mehr», sagt Kreutzberg, der die Quartierzeitung in Eigenregie herausbringt und zum Quartierchronisten avanciert ist. Er wirkt fast etwas nostalgisch, wenn er von der längst verschwundenen Uhrenfabrik Magneta am Vorderberg erzählt, in der einst unter anderem auch die Uhren für die Titanic hergestellt wurden.

In den 60ern war es für das Tiefbauamt klar: Die alten Häuser am Vorderberg müssen weg, um einer neuen Verkehrsachse Platz zu machen – trotz Widerständen aus dem Quartier. Im Dezember 1963 sollten die Zürcher über den Kahlschlag abstimmen. Die Sozialdemokraten unterstützten den Abriss, die Bürgerlichen stellten sich dagegen. Schliesslich stimmten die Zürcher für den Erhalt des alten Dorfkerns – als isolierte Insel inmitten eines Verkehrskreisels. «Pläne, die einen Anschluss der Insel ans Festland ausarbeiteten, sozusagen eine Halbinsel schaffen sollten, wurden noch bis 2010 diskutiert», sagt Kreutzberg. Das Tiefbauamt schlug einen Kompromiss vor: Der Verkehr sollte talwärtst auf eine Spur reduziert werden. Nach Protesten einiger Anwohner zog die Stadt den Plan zurück – und holte ihn 2012 erneut hervor. «Es ist eine unendliche Geschichte», so Kreutzberg.

Viele Fluntermer scheinen sich damit allerdings arrangiert zu haben wie die alteingesessene Quartierbewohnerin, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung sehen möchte. «Das kann man sowieso vergessen, dass das irgendwann wieder ein Dorfplatz wird», winkt sie ab. Viel mehr wünschte sie sich wieder ein richtiges Quartierrestaurant, wie es das früher gegeben habe. Bedenklich seien auch die teuren Wohnungen, die zwar verkauft seien, aber meistens übers Jahr leer stünden. «Dennoch: Fluntern ist ein grossartiges Quartier. Viele Familien sind zugezogen, wir haben eine hervorragende Pfarrerin. Fluntern ist viel bunter geworden.»

Martin Kreutzberg stimmt dem zu. Und er ärgert sich über das Klischee vom reichen und versnobten Zürichberg. «Das geht an der Realität völlkommen vorbei», sagt er und verweist als Beispiel auf die Hochstrasse mit der ABZ-Siedlung, den Studentenwohnheimen, der Alterssiedlung und dem Quartiertreff «Lokal». Aber vielleicht sei dieses Klischee ja gleichzeitig die Crux für Fluntern: «Wir sind eine zu vernachlässigende Grösse. Andere Stadtteile haben schliesslich grössere Probleme.»

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