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Reportage

Ein kleines Bijou – die gekieste Fussgängerallee an der Herman-Greulich-Strasse. Bild: H. Wehrli

Dem Arbeiterführer eine Bahn geschlagen

Von: Urs Hardegger

15. November 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Herman-Greulich-Strasse.

«Geh deine Bahn und lass die Leute schwätzen / Die Bahn ist lang / die Leute schwätzen viel / Mag Unverstand von Ort zu Ort dich hetzen, / Geh deine Bahn! Denk an dein hohes Ziel!» Wahrscheinlich gibt es keine Worte aus dem Munde von Herman Greulich (1842–1925), die besser seine Haltung zum Ausdruck brächten, als diese. Dabei deutete anfänglich nicht viel auf seine spätere Bedeutung für die Zürcher Arbeiterbewegung hin. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, musste er in der Fremde das Glück suchen. In Zürich, wo er eine Anstellung als Buchbinder fand, blieb er hängen und arbeitete sich zum Vorsteher des Statistischen Amtes hoch. Wegweisend war 1867 sein Beitritt zur Internationalen Arbeiter-Assoziation. Er gründete darauf eine Zürcher Sektion und die Arbeiterzeitung «Tagwacht», wurde erster Arbeitersekretär und vertrat die Sozialdemokratische Partei im Zürcher Gemeinde- und Kantonsrat, später auch im Nationalrat.

Allee als Schmuckstück

Die Bahn gehen, das fällt einem auf «seiner» Strasse nicht schwer. Ausser einem leichten Linksknick – für Greulich nicht unpassend – führt sie schnurgerade den Bahneinschnitt in Wiedikon entlang, wo sie die Hohl- mit der Stauff­acherstrasse verbindet. Ein kleines Bijou ist die gekieste Fussgängerallee neben der Fahrbahn. Die Strasse kennt man vor allem wegen des Dermatologischen Ambulatoriums des Stadtspitals Triemli, der früheren Städtischen Poliklinik. Der Klinikgründer Max Tièche hatte erkannt, dass zur Eindämmung der weit verbreiteten Geschlechtskrankheiten auch Arme und Randständige niederschwellig medizinisch versorgt werden mussten. Deshalb schuf er im Jahre 1903 ein niederschwelliges Angebot zur Abklärung und Behandlung von Syphilis und Gonorrhö.

Als ich Franziska Brellochs an der Réception des Hotels Greulich auf den Namensgeber anspreche, hebt sie besonders dessen Verdienste für die Frauen und den Einsatz für das Frauenwahlrecht hervor: «Wir sind natürlich stolz darauf, dass wir unter so einem Namen arbeiten dürfen», meint sie. Auch wenn kürzlich das Restaurant in ein Bistro umgewandelt wurde, bleibt der Mann mit dem weissen Bart an den Wänden präsent.

Der deutsche Emigrant aus Schlesien war kein Gipfelstürmer, stand für eine kontinuierliche Veränderung der Gesellschaft auf demokratischem Weg. Damals weitverbreiteten Revolutionsgelüsten schwor er ab. Besonders seine uneingeschränkte Bejahung der Landesverteidigung im Ersten Weltkrieg brachte ihm viel Kritik der Parteilinken ein.

Von Gegnern geachtet

Dies tat seiner Popularität jedoch keinen Abbruch. Weit über die Parteigrenzen hinaus wurde Papa Greulich geachtet. Zwei Wochen vor seinem Tod im November 1925 errangen die Sozialdemokraten im Verbund mit den Kommunisten zum ersten Mal die Mehrheit im Stadtzürcher Parlament. Dafür hatte Greulich ein Leben lang gekämpft. Auch politische Gegner attestierten ihm in den Nachrufen «Charakter und politische Führerfähigkeit». Auf etwas umständliche Art fand sogar die bürgerliche NZZ anerkennende Worte, es müsse ihm «doch das Zeugnis ausgestellt werden, dass er den Exzessen unverantwortlicher Radikalisten, dem Anarchismus und auch dem Bolschewismus, oft entgegenzutreten den Mut fand».

«Ganz Zürich trauert» titelte das «Volksrecht» am Tag seiner Beerdigung. Das war nur wenig übertrieben, denn es war eine riesige Volksmenge – man sprach von über 17 000 Menschen –, die an seiner Bahre im grossen Volkshaussaal inmitten eines Meers von Blumen und Kränzen vorbeizog. Einer der grossen Anführer der Zürcher Arbeiterbewegung war auf seine letzte Bahn eingebogen. Sie war gerade und führte zum Friedhof Sihlfeld.

Quellen:
«Tagwacht», 16. 12. 1872; «Der Grütli­aner», 10. 11. 1925, «Volksrecht», 12. 11. 1925; «Neue Zürcher Zeitung», 12. 11. 1925.

Lesen Sie am 30. November den Beitrag zur Kurt-Guggenheim-Strasse.

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