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Reportage

Die unterirdische Ladenstadt Shopville galt bei ihrer Eröffnung 1970 als Nonplusultra an urbaner Modernität.Bilder: Baugeschichtliches Archiv Zürich / PD

Der Boulevard im Untergrund

Von: Isabella Seemann

22. September 2020

Vor 50 Jahren eröffnete unter dem Bahnhofplatz mit dem Shopville das erste unterirdische Einkaufszentrum der Schweiz. Heute ist das Shopville ein glitzernder Konsumpalast an höchstfrequentierter Passantenlage. Doch gab es düstere Zeiten, in denen gar eine Schliessung zur Debatte stand.

«Escher-Loch» und «Bahnhofschublade» fanden bei der Jury keine Gnade. Aus 20 000 Wettbewerbseinsendungen wählte sie für das erste unterirdische Einkaufszentrum der Schweiz: Shopville. Mit dem Zusatz: Am Bahnhofplatz. Für zürcherische Zungen war das zunächst abenteuerlich. Doch zeugte das Signet von grossem Verständnis für den prestige­fördernden Duft der grossen, weiten Welt. Davon unbelastet benannte der Stadtrat, der bei Namensgebung für Strassen und Plätze zuständig war, das Fussgängergeschoss unter dem Bahnhofplatz offiziell «Bahnhofpassage».

In der Planungseuphorie

Ein kühler Wind, begleitet von Regenschauern, wehte am Donnerstag, 1. Oktober 1970 über der Stadt, als das Shopville nach zweijähriger Bauzeit eröffnete. Das Vorzeigeobjekt, das in Europa seinesgleichen suche, wie FDP-Stadtrat Ernst Bieri in seiner Ansprache lobte, diente vornehmlich dazu, dem «Durcheinander auf dem Bahnhofplatz ein Ende» zu bereiten. Der unterirdische Einkaufstempel entsprang der Planungseuphorie der 1960er Jahre, als die «autogerechte Stadt» Leitbild war und ungehinderte Mobilität und Verkehrsflüsse als Signale von Modernität galten. Zwar war das Projekt «Tieftram» an der Urne deutlich gescheitert, doch trieb die Stadt den Bau des Shopville voran. Für sie, als Vermieterin der Ladenflächen, versprach das neue Zentrum ein lukratives Geschäft. Und wenigstens konnten damit die Fussgängerströme in den Untergrund verlegt werden. Der Bahnhofplatz mit der Escher-Statue wurde fussgängerfrei. Passanten mussten, um zu den Perrons zu gelangen, per Rolltreppen ins Shopville runter und von da wieder rauf. Erst 22 Jahre später durften Fussgänger den Bahnhofplatz, dank neu markiertem Zebrastreifen, wieder ebenerdig queren.

Nachdem also der Stadtrat das blau-weisse Band durchschnitten hatte, begab man sich über die fahrbaren Treppen in die unterirdische Ladenstadt, die sich im Nu füllte mit einer grossen Zahl an Fussgängern, und es begann ein Flanieren, Einkaufen und Bewundern. 27 Geschäfte, darunter die Confiserie Sprüngli, die Buchhandlung Barth und das Schnellimbiss-Restaurant Silberkugel gehörten zu den ersten Mietern.

Terror in Zürich
Die Euphorie dauerte allerdings kaum zehn Jahre. Bereits Ende der 1970er häuften sich die schlechten Nachrichten aus dem Untergrund, die sogar international Schlagzeilen machten. Am Morgen des 19. Novembers 1979 flohen vier Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) ins Shopville, nachdem sie die Filiale der Schweizerischen Volksbank an der Bahnhofstrasse überfallen und 548 000 Franken erbeutet hatten, und lieferten sich eine Schiesserei mit der Polizei. Eine 58-jährige Frau geriet in die Schusslinie und wurde tödlich getroffen. Zwei Polizisten wurden angeschossen. Drei Täter konnten fliehen. Der Schütze vom Shopville aber wurde wenig später an der Tramstation Bahnhofquai verhaftet. Es handelte sich um Rolf Clemens Wagner, einen der meistgesuchten Terroristen Deutschlands.

1982 erschütterte ein weiterer Mord die Öffentlichkeit. Ein Wirt aus dem Kreis 5 erschoss im Streit einen 28-jährigen Junkie. Nach der Auflösung des AJZ suchten tagsüber wie auch nachts Fixer, Alkoholiker und Obdachlose im Shopville Zuflucht. In jeder Ecke, in jeder Telefonzelle schliefen Leute zusammengerollt auf dem Boden. Massnahmen von Behörden, Politik und Polizei blieben erfolglos. Zur Diskussion stand sogar die vollständige Schliessung.

Erst mit Inbetriebnahme der S-Bahn 1990 kam die Wende, allerdings mit Misstönen: Das Stadtzürcher Parlament sprach sich nur knapp für die nächtliche Schliessung des Shopville aus. Vorab die links-grüne Ratsseite wehrte sich. Die Schmuddel-Passage mauserte sich in den folgenden Jahren zu einem durchdesignten Shoppingzentrum. Der Bahnhof Museumstrasse entstand und mit ihm die Ladenpassagen der SBB, Rail City genannt, ein Name, der sich im Volksmund aber nie durchsetzte. Bis heute vermieten die Liegenschaftenverwaltung der Stadt Zürich (LVZ) und SBB-Immobilien ihre Läden unabhängig voneinander.

Bedeutender als Coca-Cola

Schon Ende der 1980er Jahre konnte man im Shopville rund um die Uhr einkaufen. Allerdings nur bei einem meterlangen Automaten, dem Store­matic, in dem hinter der Scheibe akkurat aufgereiht und numeriert Milch, Ravioli, Brot, Seife, fast tausend Alltagsartikel standen. Als er 2002 abmontiert wurde, war das ganze Shopville längst auch zur abendlichen und sonntäglichen Shoppingoase im zwinglianischen Zürich geworden. Noch einmal erlangte das Shopville Mitte der 1990er Jahre europaweit negative Bekanntheit – als Schwulenstrich. Dokumentiert im Aufsehen erregenden Film «Die Stricher vom Shopville – Männersex im Untergrund».

Schliesslich folgte 2014 die nächste Erweiterung mit der Eröffnung des Bahnhofs Löwenstrasse und den darüber liegenden Ladenpassagen. Heute listet die Homepage von Shopville 193 «Geschäfte & Services» auf, von Barth Bücher bis zu Zigarren Dürr. Mit 470 000 Passanten täglich gilt das Shopville als der meistfrequentierte Gebäudekomplex der Schweiz. Beim Umsatz steht es mit 451 Millionen Franken an dritter Stelle hinter dem Einkaufszentrum Glatt und dem Flughafen Zürich (Stand 2015, GfK Switzerland). Gemäss einer Studie soll die Marke Shopville im Grossraum Zürich gar bedeutender sein als Coca-Cola. Im Jahr 2000 wurde der Name beim Eidgenössischen Institut für geistiges Eigentum hinterlegt und ist damit geschützt.

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