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Reportage

Ein Exhibitionist erschreckte und verärgerte seit 25 Jahren Passantinnen, zuletzt in der Nähe eines Schulhauses. Symbolbild: PD

Der Exhibitionist, der sich selbst belügt

Von: Isabella Seemann

15. Juli 2014

GERICHTSFALL Ein notorischer Exhibitionist hatte sich vor Joggerinnen mehrfach entblösst. Das Bezirks­gericht gibt ihm eine letzte Chance.

Frau Mayer* sass auf ihrem Gartensitzplatz und trank Eistee. Es war ein heisser Julitag, die Hecke mit den Rosen, dem Hibiskus und der Weigela blühte üppig, sodass Frau Mayer für die Spaziergänger und Jogger an der Limmat unsichtbar war, sie selber aber hatte den Durchblick durch Löcher im Gesträuch. Und was erblickten ihre blauen Augen? Nichts Schönes. Einen Mann mit heruntergelassener Hose. Am helllichten Tag. Er sass auf der Parkbank schräg vis-à-vis. Rund um den Block spielen häufig Mädchen und Buben, ein Schulhaus, ein Spiel- und ein Sportplatz sind in der Nähe. Der Entblösser, gab sie zu Protokoll, habe nicht so gewirkt, als ob er jemanden habe erschrecken wollen. Eher entrückt, gequält. Er war damit beschäftigt, zur Sache zu kommen.

Rückkehr zum Tatort

Angewidert von diesen nackten Tatsachen rief sie die Polizei. Der Entblösser, als er den Tumult bemerkte, schnappte seinen Rucksack und sah zu, dass er Land gewann. Nach zwei Stunden kam er aber zurück und wiederholte das Spiel. Auf dem Polizeiposten zeigte man Frau Mayer Fotos eines einschlägig bekannten Mannes. Der Angeklagte, nennen wir ihn Herrn Philipp (43), ein drahtiger Mann mit starren, erschrockenen Augen und buschigen Brauen, trägt eine beige Cordhose, ein kariertes Hemd, feste braune Schuhe. Von Beruf macht er «was mit Computer».

Vor Gericht gibt er sich eher zugeknöpft. Von seinem bürgerlichen Leben möchte der Exhibitionist nicht zu viel preisgeben. In hastig-stockender Rede versichert er dem Richter, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse. «Weil ich das nie mehr mache», sagt er. «Ich habe im Gefängnis 18 Monate gebüsst. Seit dieser Zeit weiss ich es. Ich mache das nicht mehr! Weil ich! für meine frü-here Straf-tat! ge-büsst! ha-be!» Er setzt Ausrufungszeichen zwischen die Wörter, die Silben. «Nie! Wie-der! Nie mehr! In mei-nem Le-ben! Das ist ta-bu!» Er leugnet. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Sein Kopf weiss, was nicht sein darf, aber sein Kopf ist machtlos gegen den Zwang, der ihn lenkt. «Ich fuhr mit dem Velo den Fluss entlang, da wurde mir sehr heiss, es hat mich doch niemand gesehen, als ich mich im Schatten ein bisschen abkühlte.» Eine glatte Ausrede. Wie schon zuvor plötzlich reissende Gürtel oder überfallartig auftretende «dringende Bedürfnisse» als Scheinerklärungen haben herhalten müssen. Vergeblich. Tatsächlich macht es ihm ohne Zuschauerinnen gar keine Freude. Sein Strafregister ist voller einschlägiger Einträge, auch eine Verurteilung wegen sexueller Handlungen mit einem Kind ist dabei. Seit einem Vierteljahrhundert entblösst er sich vor Frauen, die seiner «Zielgruppe» entsprechen. Auf Finnenbahnen, Tennisplätzen oder in Badis wartet er auf Passantinnen mit «erotischer Ausstrahlung». Enge Shorts und Shirts, nackte Beine, ein blonder Rossschwanz – dann lässt der Zürcher mit sämtlichen Hemmungen auch die Hosen fallen.

Trieb stärker als Angst vor Haft

Natürlich, das schwant auch Herrn Philipp, ekeln sich die allermeisten Frauen vor ihm. Fürchten sich, empfinden Abscheu, fühlen sich sexuell belästigt. Doch er nimmt das in Kauf. Sein Trieb ist stärker. Weder Haft auf Bewährung, noch Geldstrafe, noch eine gescheiterte Ehe haben ihn davon abhalten können, seine Männlichkeit immer wieder in obskurer Manier zur Schau zu stellen. Ob er es mit Therapie versucht habe? «Oh ja, vielfältig», sagt er. Seit einem Jahr arbeite er mit einer Psychologin daran, das eingefahrene Muster aus depressiver Verstimmung und Exhibitionismus zu verlassen. Wenn ihn heute jemand demütige, ziehe er sich zurück und analysiere die Situation. Häufig stelle er dabei fest, wie nichtig die Kränkung war. «Zu 50 Prozent funktioniert das», sagt Herr Philipp. Sein «letztes Wort» klingt trotzig, wie das eines Kindes, verzweifelt, dass man ihm doch glauben solle: «Ich habe alles zugegeben von früher. 18 Monate Gefängnis, das hat bei mir seelisch gearbeitet. Ich will nicht, dass es mich einholt! Ich will die Frau, mit der ich lebe, nicht verlieren! Ich will mit ihr nach Italien auswandern! Ich will ein anständiger Mann sein! Aber die Hitze, da haben meine Nerven nicht mitgespielt.» – «Ich glaube, Sie machen sich was vor», entgegnet der Richter. Herr Philipp soll nämlich noch weiteren Frauen aufgelauert haben. Auf dem Vitaparcours soll er Joggerinnen angesprochen und nach dem Weg gefragt haben. Dabei soll er unter seiner Jacke «in schamverletzender Weise an seinem Glied manipuliert» und dazu «obszöne Stöhnlaute» von sich gegeben haben, wie es in der Anklageschrift heisst. Für die Entblössungen wird er wegen Exhibitionismus verurteilt. Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt auf zwei Jahre, die aufgeschoben wird für eine Therapie. Unter Berücksichtigung seiner einschlägigen Vorstrafen, die allerdings mehrere Jahre zurückliegen, sei der Entscheid, eine bedingte Strafe auszusprechen, nicht leichtfertig gefallen. Die früheren bedingten Geldstrafen werden allerdings widerrufen, und Herr Philipp muss seine Therapie fortführen. «Sie müssen Ihre Sexualität verarbeiten, Sie brauchen Hilfe! Und auch für die Öffentlichkeit ist es wichtig, dass Sie sich in den Griff bekommen.»

* alle Namen geändert

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