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Reportage

Herr Gökhan zog auf der Strasse seinen geladenen Revolver und feuerte auf die jungen Männer. Bild: PD

Der Gerichtsfall

Von: Isabella Seemann

04. Juni 2013

Fünf blaue Bohnen und ein paar Schwedenküsse

Andächtig, als gingen sie in ein Gotteshaus, betreten die Berufsschüler den grossen Verhandlungssaal des Obergerichts. Sie sind siebzehn, bei Gericht sollen sie lernen, wie es nicht laufen soll im Leben. Viele haben dunkle Augen und dunkle Haare, die Gesichter noch samten und ohne Schrammen. Auch die beiden jungen Studentinnen im Publikum wirken, als hätten sie bisher am Dessertbuffet des Lebens gestanden. Es sind die Töchter des einstigen Zürcher Kebabkönigs Gökhan*.

Dieser hat sich allerdings von der Gerichtsverhandlung dispensieren lassen. Warum Herr Gökhan an seiner Berufung fehlt, erfährt man nicht. Hatte er keine Lust, ist er unpässlich oder lieber in die Ferien gefahren statt ans Obergericht? Auch wenn dies nicht zu seinem Vorteil gereicht, so schadet es auch nicht, denn der 57-jährige Kebabverkäufer gilt wahrlich nicht als Sympathieträger. Er gibt sich ganz offen als einer jener Misanthropen, die versagt haben, dem Schicksal seinen Lauf lassen und die Schuld bei anderen suchen. Herr Gökhan ist leicht reizbar, gewalttätig und vorbestraft. Der Staatsanwalt nannte ihn «einen aggressiven Tunichtgut».

Champagner mit Ludmilla
Nach einem Sonntagsspaziergang mit seinen zwei Töchtern brauchte Herr Gökhan einen Whisky und ein bisschen Unterhaltung für Erwachsene. Zu diesem Zweck suchte er ein übel beleumdetes erotisches Etablissement im Niederdorf, unweit seiner Wohnung, auf.

Ludmilla gesellte sich zu ihm, trank Champagner auf seine Kosten, wechselte ein paar Worte, woher, wohin. Er aus der Türkei, sie aus der Ukraine. Als der Chef sie zum Stripteasetanzen auf die Bühne beorderte, goutierte Herr Gökhan das gar nicht. Er habe schliesslich 200 Franken in das Mädchen investiert, ­krakeelte er herum, und wolle jetzt etwas von ihr haben. Der Barbesitzer gab ihm zu verstehen, dass er seinen Drink trinken und verschwinden ­solle.

Um seiner Order Nachdruck zu verleihen, begleitete er ihn zur Tür. Just in dem Moment verliessen noch zwei andere Gäste die Venus-Bar. Es gab ein Gerempel. Herr Gökhan zog auf der Strasse seinen geladenen Revolver und feuerte auf die jungen Männer fünf Schuss ab. Soweit herrscht Einigkeit unter den Be­teiligten.

Die Sache mit dem Revolver passierte bereits vor acht Jahren, beschäftigte mittlerweile vier Gerichte, mehrere Gutachter, und der Pflichtverteidiger, auch schon der vierte, kündigt gleich von Beginn weg an, wohin die Reise geht, wenn das Obergericht seinen Forderungen nicht nachkommt: «Nach Lausanne und, wenn nötig, bis nach Strassburg». Schliesslich gelte es sämtliche Rechtsmittel auszuschöpfen, die der Rechtsstaat offenhalte, damit die Ausschaffung seines Mandanten in die Türkei verhindert werde, denn das wäre für diesen «die Todes­strafe».

Der amtliche Verteidiger hat ein Talent zu Übertreibungen, trägt eine rote Krawatte mit vielen weissen und einem schwarzen Schäfchen und sorgt gleich am Anfang für eine Überraschung: Er fordert ein psychiatrisches Obergutachten, weil sich die zwei eingeholten Gutachten widersprächen und die vorherigen Instanzen stets von der für den Angeklagten denkbar ungünstigsten Variante ausgingen.

Sowohl das mittlerweile abgeschaffte Geschworenengericht sowie nach einer Berufung ans Kassationsgericht das danach zuständige Zürcher Bezirksgericht verurteilten Herr Gökhan wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu fünfeinhalb Jahre Freiheitsstrafe. 44 Monate hat er bereits abgesessen. Sein Pflichtverteidiger fordert einen Freispruch, respektive sei sein Mandant der mehrfachen einfachen Körperverletzung schuldig zu sprechen. Ansonsten sei zum Fall alles gesagt, was es zu sagen gebe, sein Plädoyer werde ein Konzentrat seiner bisherigen sein, kündigt er an.

Das «Damenrevölverli»
Es ist indes ein leeres Versprechen. Während bleierner drei Stunden zerpflückt er jede Aussage von Richtern und Staatsanwälten der vergangenen Verhandlungen. Zwar würzt er seine redundante Rede mit Schmähungen gegen die Justizbeamten, doch legt sich Schläfrigkeit über die fernsehshowgewohnten Berufsschüler. Sein Mandant habe aus reiner Notwehr die Schreckschüsse gegen die beiden jungen Kosovo-Albaner abgegeben, nicht in der Absicht, sie zu töten. «Abgesehen davon kann man mit diesem Damenrevölverli noch nicht mal einen Chüngel töten», meint er zur Waffe, einem Minirevolver. Dem widersprechen freilich mehrere ­Gutachten. Auch kleinkalibrige Munition kann töten. Und wieso hat Herr Gökhan seine unerlaubt besessene Waffe nicht zu Hause gelassen? Um sich vereidigen zu können. Bekanntlich sei das Einfordern von Schutzgeldzahlungen zur Finanzierung von politischen Organisationen im Heimatland durchaus keine Seltenheit in diesen Kreisen. Als sich sein Mandant einst weigerte zu bezahlen, sei er angeschossen worden, seither leide er unter massiven ­Ängsten, ja Verfolgungswahn.

Pöbelt jemand, der unter massiven Ängsten leidet, in Nachtclubs rum? Wohl kaum, meint der Staatsanwalt und wird nun auch schärfer im Ton. Der «unberechenbare Türke» habe im Ausgang selber Angst und Schrecken verbreitet, ständig Streit gesucht, Leute beleidigt, Schweden­küsse verteilt, das halbe Niederdorf könne ein Liedchen davon singen. Der Strafantrag der Anklage lautet auf sechs Jahre Freiheitsstrafe.

Die Richter kommen zu keinem Urteil mehr an diesem Tag. Frühestens vor den Sommerferien werde man Bescheid sagen. Jetzt komme es ja wohl auch nicht mehr auf ein paar Wochen mehr oder weniger an. Herr Gökhan kann vorerst weiter Kebabs verkaufen. Die Schüler auf dem Korridor schnattern wie eine Horde Gänse. So richtig toll fanden sie den Fall nicht: zu wenig Action.

* alle Namen geändert

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