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Reportage

Ein Gebäude in Höngg: Hier wurde die 16-jährige Samira von ihrem Vater getötet. Bild: Markus Heinzer

Der Gerichtsfall

Von: Isabella Seemann

05. Dezember 2012

Ehrenmord oder Handlung im Affekt?

Später würde Herr Bilal B.* nicht genau beschreiben können, was in jenem Augenblick in ihm vorgegangen war. Es habe ganz tief innen gleissend zu leuchten begonnen, als ob sich ein kaltes Feuer entzündet hätte. Er bat seine Tochter zu bleiben, nicht zu ihren Freunden vom HB abzuhauen. Darauf zeigte sie ihm ihre Beine und sprach den verhängnisvollen, ihren letzten Satz, wahrscheinlich in dem für Halbwüchsige typisch schnippischen Ton vorgetragen: «Ich gehe jetzt im Kreis 4 als Hure anschaffen.» Da schlug er ihr die Axt auf den Kopf. Hinterrücks. Samira* konnte nicht ausweichen, fiel zu Boden, rappelte sich noch einmal auf, stolperte, er schlug weiter zu, 19-mal. Samira starb mit nur 16 Jahren auf dem Fussboden der elterlichen Wohnung in Höngg. Nach der Tat legte der Vater das Beil akkurat ausgerichtet auf das Gesäss der Tochter, wusch sich die Hände, verliess die Wohnung und informierte die Polizei. An einer Tramhaltestelle liess er sich widerstandslos festnehmen. Kaum war das Verbrechen bekannt, warfen die Medien die Phrasendreschmaschine an: Migrationshintergrund, Ehrenmord, verfehlte Integration, wie üblich. Der Vater, geboren in den 1950er- Jahren in einem kleinen Dorf in Pakistan, strenggläubiger Muslim, habe seine schöne Tochter Samira wegen ihrer westlichen Lebensweise mit der «Axt der Ehre» hingerichtet, hiess es. Im April dieses Jahres begann der Prozess gegen das Familienoberhaupt Bilal vor dem Bezirksgericht Zürich. Die hoch emotionalisierte Strafsache, an der sich Entsetzen und Empörung entzündeten, endete mit einer Verurteilung wegen Mordes. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Vater während des Streits beschlossen hatte, «seine Tochter mit dem Tod zu bestrafen», und verurteilte ihn zu 17 Jahren Gefängnis. Sowohl der Staatsanwalt wie auch Bilals Verteidiger zogen das Urteil weiter. Bewegungslos, mit zusammengefallenen Schultern steht Herr Bilal nun unter dem gigantischen Kronleuchter des Obergerichts. Ein kleiner, untersetzter Mann in gestreiftem Poloshirt und Jeans, das kurz geschnittene Haar ist weiss, das glatt rasierte Gesicht grau und schlaff, gezeichnet von Traurigkeit und Tabletten, die Augen hinter der Brille liegen in tiefen Schatten. Herr Bilal macht von seinem Recht Gebrauch zu schweigen und starrt durch den Boden hindurch in eine unendliche Leere, derweil der Staatsanwalt von einer archaischen Welt erzählt, die nach anderen Rhythmen und Regeln als unsere hoch individualisierte Gesellschaft funktioniert, von der Welt des Herrn Bilal. Es ist eine Welt, in der die Ehre der Familie mehr wiegt als ein Menschenleben. Bereits einmal habe der Vater seine Tochter in der vollen Badewanne mit einem eingesteckten, laufenden Föhn umbringen wollen, weshalb der Angeklagte zusätzlich zum Mord noch wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu verurteilen und mit 20 Jahren Gefängnis zu bestrafen sei.

Einvernahme ohne Anwalt
Von einem Ehrenmord könne keine Rede sein, kontert Bilals Verteidiger und zerpflückt des Staatsanwalts Argumente in einem dreistündigen Plädoyer. Mit zürcherisch-behäbiger Rhetorik zwar, aber auch mit viel Schärfe machte er dem Obergericht klar, was er von den Ermittlungen der Untersuchungsbehörden hält: nichts. Sein Mandant habe bei der ersten Hafteinvernahme keinen Anwalt bei sich gehabt, weshalb seine Aussagen nicht verwertbar seien. Der Staatsanwaltschaft wirft er dilettantisches Herumermitteln vor, und dem Bezirksgericht stellt er ein miserables Zeugnis aus. Dass ihm die Berichterstattung mancher Medien ein Dorn im Auge ist, sagt der Verteidiger mehrfach und widerlegt deren Schlagworte. Herr Bilal habe die Schweizer Werte geteilt, den Freund der Tochter toleriert, ebenso ihre modische Kleidung und die Schminke. Aber wenn es kein Ehrenmord war, weshalb dann hat der Vater sein erstgeborenes Kind, seine «Lieblingstochter » getötet? Gestützt auf das psychiatrische Gutachten, zeichnet der Verteidiger das Bild eines einfach strukturierten Mannes, ein Analphabet mit einem Intelligenzquotienten von nur 80, der in komplexen und schwierigen Situationen heillos überfordert ist. Und an Schwierigkeiten mangelte es Herrn Bilal nicht. Die pakistanische Ehefrau musste wegen Selbstmordabsichten mehrfach in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden, die zweite Tochter wegen psychischer Probleme ebenso, die dritte Tochter war in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben. Allein diese Schwierigkeiten seien geeignet, auch die Fähigkeiten europäischer Durchschnittseltern «auszureizen beziehungsweise zu überfordern». Bei Herrn Bilal äusserte sich die Hilflosigkeit mit Herzbeschwerden, zweimal musste der Vater hospitalisiert werden. Diagnose: Depression verbunden mit einer übersteigerten inneren Unruhe. Dass er an jenem schwarzen Maitag 2010 morgens von der Lehrerin erfuhr, dass Samira mehrfach die Schule geschwänzt hatte, sie nachmittags auf der Polizeiwache abholen musste, weil sie beim Ladendiebstahl erwischt wurde, und sie abends im Trotz ankündigte, als Prostituierte arbeiten zu gehen, brachte das bis zum Rand volle Fass zum Überlaufen. Ihre letzten Worte hätten bei ihm einen immensen Affektdurchbruch ausgelöst. Herr Bilal selbst werde sich nie verzeihen können, was er gemacht habe. Er habe seine Tochter mehr geliebt als sich selbst. Der Verteidiger erachtet eine Freiheitsstrafe von 4½ Jahren wegen Totschlags als angemessen. Es bleibt jedoch beim Mord. Das Gericht anerkennt aber die starke Beeinträchtigung des Angeklagten und reduziert die Strafe von 17 auf 13½ Jahre. So stumm wie er die sechsstündige Verhandlung über sich ergehen liess, so stumm lässt sich Herr Bilal wieder ins Gefängnis führen.

* Persönliche Angaben geändert.

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