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Reportage

Evelyn Wetter (l.) und Gertrud Jenni bei einem ihrer Spaziergänge in Wollishofen. Bild: Sacha Beuth

Der Nachbar – dein Freund und Helfer

Von: Sacha Beuth

22. Oktober 2013

Gertrud Jenni benötigt Unterstützung beim Spazieren, Evelyn Wetter hat Zeit dafür – die Nachbarschaftshilfe hat die beiden zusammengebracht.

Eine Wohnung irgendwo in Wollishofen. Es ist 15 Uhr, als es bei Gertrud Jenni klingelt. Voller Freude öffnet die 90-Jährige die Tür. Vor ihr steht Evelyn Wetter, eine 40-jährige Schweiz-Chilenin. Die beiden begrüssen sich herzlich, dann schnappt sich Jenni ihren Mantel, hakt sich bei Wetter unter, und beide machen sich auf zu ihrem Spaziergang.

Kein aussergewöhnliches Ritual – wäre es nicht arrangiert. Der Verein Nachbarschaftshilfe Kreis 2, welcher der Nachbarschaftshilfe Zürich angeschlossen ist (siehe Box), hat die beiden zusammengebracht. Wetter ist dort freiwillige Helferin, Jenni bedarf der Unterstützung. Seit rund fünf Jahren nimmt die Rentnerin die Dienste der Nachbarschaftshilfe in Anspruch. «Wissen Sie, ich bin nicht mehr so gut zu Fuss», erzählt Jenni. «Anfangs benötigte ich vor allem einen Fahrdienst, in den letzten Jahren brauche ich auch ­jemanden, der mich bei Spaziergängen oder Besorgungen stützt.» Sie sei sehr froh um diese Hilfe, betont Jenni. «Und besonders um eine so nette und zuverlässige Helferin wie Evelyn.» Die ­Gelobte lächelt verlegen. «Das mache ich gerne für dich.»

Vor vier Jahren wurde Wetter beim Lesen des «Tagblatts» auf die Nachbarschaftshilfe ihres Quartiers aufmerksam. Nach einer schweren Chemotherapie musste sie ihren angestammten Beruf als Hotelfachassistentin aufgeben. Von der IV krankgeschrieben, suchte sie nach ­einer Beschäftigung. «Ich musste etwas machen. Zugleich sollte es aber auch etwas Sinnvolles sein. Ich wollte anderen helfen, mich dankbar dafür zeigen, dass ich Glück im Unglück hatte. Die Nachbarschaftshilfe schien mir genau das Richtige zu sein.» Wetter schätzt vor allem, dass die Nachbarschaftshilfe des Kreises 2 einen nicht nur gut auf seine Aufgabe vorbereitet, sondern auch viel Rücksicht auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Freiwilligen nimmt. Die Art der Dienstleistung sowie die Zeit, die man dafür zur Verfügung stellen will, kann man selber bestimmen. «Aufgrund der Folgen meiner Krankheit bin ich diesbezüglich limitiert und muss aufpassen, dass ich mir nichts breche, weil sonst die Knochen in kleinste Teile zersplittern könnten.» Aber als Begleitung oder um beim Einkaufen die Taschen zu tragen, sei sie die ideale Frau. Vor Jenni hat Wetter schon fünf andere Personen betreut. Darunter eine Demenzkranke und einen Messie. «Man braucht für diese Aufgabe viel Einfühlungsvermögen. Es ist vor allem wichtig, Vertrauen zu schaffen. Immerhin lässt da jemand eine wildfremde Person zu sich in die Wohnung.»

Die beiden Damen sind inzwischen bei der Hälfte ihrer Runde um die Siedlung angelangt. Jenni, die zuvor am Arm von Wetter zügigen Schrittes unterwegs war («Früher als Buchhalterin lief ich in diesem Tempo mit High Heels, jetzt geht es nur noch in diesen flachen Schlarpen»), ist an diesem Herbsttag nun aber doch etwas gar ins Schwitzen geraten und wünscht umzukehren. Wetter bringt sie bis zur Haustür, läuft dann noch schnell zur Änderungsschneiderei um die Ecke, um eine Hose für Jenni abzuholen, leert den Briefkasten der Rentnerin und gesellt sich dann wieder zu ihr. Jenni hat inzwischen Kaffee und Süssgebäck aufgetischt, und nun wird wie üblich über die jeweiligen Familienangehörigen und über Gott und die Welt geplaudert. Einzig Krankheitsthemen werden nach Möglichkeit vermieden.

Das «Käfele» ist eine wichtige Komponente in der Betreuung – hier offenbar für beide Seiten. «Evelyn versteht es, einen auch moralisch zu unterstützen», sagt Jenni, worauf Wetter lachend kontert: «Darin bist du mindestens ebenso gut.» Die Beziehung der beiden geht längst über die einer Verbindung zwischen Helferin und Hilfsbedürftiger hinaus. «Man kann ruhig sagen, wir sind Freundinnen geworden», sagt Wetter, worauf sich die beiden liebevoll umarmen.

ZAHLEN UND FAKTEN

In Zürich gibt es seit 1987 Nachbarschaftshilfen. Den Anfang machte der Kreis 9, dem weitere folgten. 2005 schlossen sich die Nachbarschaftshilfen zusammen und gründeten den Verein Nachbarschaftshilfe Zürich. Diesem gehören 14 Nachbarschaftshilfen an, die bis auf den Kreis 5 und Teile des Kreises 7 in der ganzen Stadt tätig sind. Insgesamt rund 1000 Personen sind für die Nachbarschaftshilfen Zürichs im Einsatz. Die Nachbarschaftshilfe des jeweiligen Kreises koordiniert die Einsätze; die Dauer und die Art der Hilfe können von den Freiwilligen jedoch selber bestimmt werden. Meist handelt es sich um Dienstleistungen wie Babysitting, Einkaufen, Tiere füttern oder um schlichtes Gesellschaftleisten.

Weitere Infos: Tel. 043 960 14 48 oder www.nachbarschaftshilfe.ch

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