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Reportage

Jessica Wipfli hat MS. Vorurteile und das Unwissen über die Krankheit mit den vielen Gesichtern machen sie oft wütend. «Ich geniesse mein Leben.» Bild: Privat

Der Wille ist entscheidend

Von: Ginger Hebel

20. Oktober 2020

Krankheit: Multiple Sklerose (MS) sieht man vielen Menschen von aussen nicht an, auch Jessica Wipfli nicht. Die 25-Jährige steckte mittendrin in ihrer Militärausbildung, als der erste Schub auftrat. Heute ist sie dienstuntauglich, hat aber ein neues Ziel vor Augen: Sie will Hebamme werden. 

Jessica Wipfli lacht viel und sagt gerne, was sie denkt. Dabei nimmt sie selten ein Blatt vor den Mund. Auch über ihre Diagnose spricht sie offen. Die 25-Jährige leidet seit vier Jahren an MS – Multipler Sklerose. Menschen, denen sie davon erzählt, wissen häufig sehr wenig über die Krankheit mit den vielen Gesichtern. Manche denken dabei fälschlicherweise an Muskelschwund und ein Leben im Rollstuhl. Dieses Unwissen macht Jessica Wipfli oft regelrecht wütend. «Es kann sein, dass ich eines Tages im Rollstuhl sitze. Aber es ist auch sehr gut möglich, dass ich ein normales Leben führen kann. Niemand weiss, was die Zukunft bringt.»

Rund 15 000 Menschen sind in der Schweiz von MS betroffen. Die Symptome sind äusserst vielseitig und individuell, oft genannt werden Seh-, Geh- und Sensibilitätsstörungen, aber auch Erschöpfung, die sich mit Schlaf nicht kompensieren lässt. Die entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist nicht heilbar, es stehen aber zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung – häufig mit Medikamenten – die den Verlauf lindern und entsprechend verlangsamen können. Jessica Wipfli behandelt ihre Diagnose mithilfe einer Basistherapie.

Ein Kribbeln im Gesicht

MS im Kindes- und Jugendalter ist eine seltene Erkrankung (siehe Interview auf der rechten Seite). Jessica Wipfli erhielt die Diagnose im jungen Alter von 21. Damals steckte sie mitten in der Ausbildung zum Offizier – als einzige Frau unter vielen Männern. Sie mochte die Strukturen, die Verantwortung, den Zusammenhalt. In Kampfstiefeln hatte sie den 60-Kilometer-Marsch bewältigt, als sie im linken Mundwinkel ein Kribbeln spürte. «Ich dachte im ersten Moment an einen eingeklemmten Nerv.» Kurz darauf gesellten sich jedoch Gleichgewichtsstörungen dazu, das Kribbeln bereitete sich über die ganze Gesichtshälfte aus. «Ich hatte damals nur die Ausbildung im Kopf. Ich wollte sie unbedingt beenden und mein Ziel erreichen», sagt Jessica, während sie im Park des Zürcher Landesmuseums sitzt und auf die Limmat blickt.

 

In ihrer aktiven Dienstzeit erlitt sie mehrere MS-Schübe. An schlechten Tagen sei es ihr praktisch unmöglich gewesen, geradeaus zu laufen, «mein Körper schwankte». Weil Multiple Sklerose per Ausschlussverfahren diagnostiziert wird, hat sie erst sechs Monate später die definitive Diagnose erhalten. Da war sie bereits am Ende ihres Abverdienens als Leutnant. «Heute weiss ich, dass ich mit meinem Willen viel erreichen kann. Das gibt mir Kraft für neue Aufgaben.»

Viel Schlaf und Wärme

Die gebürtige Bernerin wuchs mit drei Brüdern auf und lernte früh, sich durchzusetzen. Von ihrem Vater, ein aktiver Musiker, hat sie die Faszination für Instrumente geerbt. Die Musik ist ihre ständige Begleiterin. Schon in ganz jungen Jahren fiel Jessica Wipfli durch ihre Zielstrebigkeit auf. «Früher ging ich mit dem Kopf durch die Wand, ich hörte nicht auf die Signale meines Körpers», sagt sie rückblickend. Aufgrund ihrer Diagnose ist sie dienstuntauglich. Das Militär fehle ihr, doch das Leben geht weiter. Momentan absolviert sie das Studium zur Hebamme und hält sich dadurch sehr oft in der Stadt Zürich und in Winterthur auf, wo sie auch viele Freunde hat. «Ich brauche den Kontakt zu Menschen», sagt die 25-Jährige. Einen Kinderwunsch hegt sie derzeit aber nicht. «Auch MS-Patienten können Kinder kriegen, aber ich kann es mir aktuell nicht vorstellen, ein Kind zu gebären.»

Der letzte MS-Schub sei derart stark gewesen, dass sie einen Gehstock zur Hilfe nehmen musste. Seither ist ein ganzes Jahr vergangen. Ob ein nächster Schub folgen wird, ist ungewiss. «Ich verdränge die Krankheit nicht. Wenn ich das tun würde, könnte ich nicht im Einklang mit meinem Körper leben», sagt Jessica Wipfli. Sie weiss heute viel besser, was ihr guttut und wann sie die Handbremse ziehen muss. So gönnt sie ihrem Körper jeweils acht biszehn Stunden Schlaf und ganz viel Wärme, «denn Kälte kostet Energie». Die Lust am Leben lässt sie sich durch die MS aber nicht nehmen. «Ich geniesse alles in vollen Zügen.»

Weitere Informationen: Die Schweizerische MS Gesellschaft bietet eine Vielzahl von Unterstützungs- und Entlastungsangeboten an, vermittelt Kontakte zu Experten und vernetzt Betroffene. Gratis-MS-Infoline: 0844 674 636 Telefon-Beratung: 043 444 43 43 Mail-Beratung: info@multiplesklerose.ch www.multiplesklerose.ch

"Der Lebenstraum darf nicht an der MS scheitern"

Wie viele Kinder und Jugendliche erkranken jährlich neu an MS?

Sandra Bigi: MS im Kindes- und Jugendalter ist eine seltene Erkrankung, internationale Daten sprechen von einer Häufigkeit von <5/100 000. Wie viele in der Schweiz betroffen sind, wissen wir aktuell nicht, da es hierzulande bislang keine epidemiologischen Daten zur MS im Kindesalter gibt. Aus diesem Grund bauen wir zurzeit ein nationales Register auf, um einen besseren Überblick über die Anzahl, Versorgung und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit MS zu erfahren.

Wie machen sich erste Symptome bemerkbar?

Je nachdem, welche Funktion der entzündete Teil des zentralen Nervensystems üblicherweise ausübt, zeigen sich unterschiedliche Symptome. Ist der Sehnerv betroffen, kann der Patient schlecht oder gar nicht mehr sehen. Bei Entzündungsherden im Kleinhirn kann es zu Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen kommen. Unterschiede zu den Erwachsenen finden sich vor allem beim jüngeren Kind; dort kommt es häufig zu multiplen, oftmals grossflächigen Entzündungsherden und demzufolge auch zu Symptomen, die mehr als nur ein Hirnareal betreffen. Während Kinder und Jugendliche vor allem bei Krankheitsbeginn mehr Schübe haben als Erwachsene mit MS, erholen sie sich exzellent davon. Allerdings kommt es durch die chronische entzündliche Aktivität in einem noch nicht vollständig ausgereiften Gehirn früh zu einem Abbau von Hirnsubstanz, was für die mentale Leistungsfähigkeit negative Folgen nach sich ziehen kann.

Was sind die Ursachen der kindlichen MS?

Die genaue Ursache ist nach wie vor nicht bekannt, weder bei Kindern noch bei Erwachsenen. Mittlerweile kennt man Risikofaktoren. Dazu zählen ein verminderter Vitamin-D-Spiegel, eine durchgemachte EBV-Infektion, Rauchen und gewisse genetische Merkmale. Man kann aber nicht sagen, dass MS wie eine klassische Erbkrankheit vererbt wird.

Wächst sich die Krankheit eines Tages heraus?

Nein, MS ist zwar mittlerweile gut therapierbar, aber nach wie vor nicht heilbar. Idealerweise kann die Therapie die Krankheit so weit in Schach halten, dass die Betroffenen nichts von der MS merken.Das heisst, die Krankheit ist zum Stillstand gekommen, es gibt keine Schübe und kaum neue Entzündungsherde mehr.

Können MS-Patientinnen Kinder kriegen?

Ja, klar. Ziel der MS-Therapie im Kindes- und Jugendalter ist das Ermöglichen eines komplett normalen Lebens. Die Verwirklichung des Lebenstraums darf nicht an der MS scheitern. GH

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