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Reportage

"Niemals würde ich stehlen! Lieber würde ich meine Schwiegermutter anbetteln!" Bild: PD

Ein Frauentag am Bezirksgericht

Von: Isabella Seemann

21. Oktober 2014

Die Gleichstellung der Geschlechter macht auch vor der Anklagebank nicht halt: Auf der Verhandlungsliste stehen nun öfter Frauennamen zwischen den vielen Männernamen.

Dragana M.* sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Anklagebank und lässt keck ihr Füsschen kreisen. Der Richter hat die hoch­hackigen schwarz lackierten Pumps direkt vor Augen und einen tiefen Einblick in das beigefarbene, dekolletierte Kostüm. Dieses hat die 35-Jährige mit Bedacht gewählt: Es sitzt wie eine zweite Haut, modelliert einen formvollendeten Busen und eine schlanke Taille, kurz, es bringt eine Traumfigur raffiniert zur Geltung.

Exquisiter Chic
Dass dieser edle Körper nicht irgendwie verhüllt, sondern durch exquisiten Chic immer wieder neu präsentiert werden will, scheint die Anklage zu bestätigen: Gemeinschaftlicher Diebstahl teurer Markenkleidung aus einer Modeboutique wird der Frau vorgeworfen, die vermeintlichen Diebespartner kommen gesondert vor Gericht. Dafür hat die gebürtige Serbin eine Dolmetscherin zur Seite, die weit mehr leistet als verlangt, sie empfindet mit, ja, mehr als das, sie empfindet ausdrucksvoller, dramatischer, engagierter. Wenn Dragana aufgebracht ist, spricht sie die übersetzten Sätze in noch aufgebrachterer Weise aus, wenn sie schnippisch ist, ist sie schnippischer, wenn sie traurig ist, ist sie trauriger. Nur das Weinen überlässt die Dolmetscherin der Angeklagten allein.

Das Duo zornig: «Ich bin überhaupt nicht mit der Anklageschrift einverstanden und kann nicht für etwas Verantwortung übernehmen, was ich gar nicht gemacht habe, puh», ruft Dragana. «Puh», übersetzt die Dolmetscherin. Das Duo dramatisch: «Niemals würde ich stehlen! Lieber würde ich meine Schwiegermutter anbetteln!»

Während in besagter Nacht in die Modeboutique eingebrochen wurde, will Dragana mit einer Freundin um die Häuser gezogen und erst am frühen Morgen in deren Wohnung zurückgekehrt sein. Dragana legte sich auf dem Sofa schlafen. Plötzlich stand die Polizei in der Stube, Dragana, ihre Freundin und zwei Männer wurden verhaftet und Kleider im Wert von 40 000 Franken beschlagnahmt.

Doch nur die Hälfte konnte ausgeraubten Geschäften zugeordnet werden. Zeugen sagten aus, aber jeder hat nur einen Ausschnitt erlebt, die Puzzleteile ergeben kein Bild. Zwei Polizisten wurden von Draganas Mann im nigelnagelneuen Adidas-Anzug und teuren goldenen Nike-Turnschuhen empfangen, aber die Sachen konnten nicht als Diebesgut zugeordnet werden. «Eine Verurteilung kann jedoch nur erfolgen, wenn keine vernünftigen Zweifel vorliegen», sagt der Richter. «Darum ist die Angeklagte in dubio pro reo freizusprechen.» Dragana sagt Danke schön für den Freispruch. «Sie brauchen sich nicht zu bedanken», ruft ihr der Richter grimmig hinterher, als sie sich lasziv aus dem Saal bewegt.

Vom Finden falscher Freunde
Frauentag am Bezirksgericht: Am sonnigen Nachmittag sitzt Louisanna, in eine pinkfarbene Lederjacke gehüllt, auf der Anklagebank, die Arme eng an den Körper gelegt, als ob sie frieren würde. Frauen, normalerweise, sind vor den Schranken des Gerichts stark untervertreten, und wenn sie delinquieren, dann sind es meist strafbare Handlungen gegen das Vermögen, vor allem Diebstahl und Raub, Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz und gegen das Betäubungsmittelgesetz. Gegen Letzteres soll Louisanna verstossen haben. Die Drogenbande sitzt woanders, im Gefängnis, gegen Louisanna wird gesondert verhandelt. Ihre schwarzen gestreckten Haare hat sie streng nach hinten gebunden, an den Ohren hängen riesige Kreolen, scheu blickt sie umher. Louisanna redet nicht viel, der Verteidiger erzählt ihre Geschichte. Sie handelt von der Suche nach Glück und vom Finden falscher Freunde.
Louisanna ist in der Dominikanischen Republik aufgewachsen, zur Schule ging sie sechs Jahre lang. Mit 19 bekam sie ihr erstes Kind, es folgten in kurzen Abständen zwei weitere. Dazwischen zog sie in die Schweiz und heiratete, liess sich scheiden und heiratete erneut.

Obwohl das Sozialamt vollumfänglich für den Lebensunterhalt der Familie aufkam, häuften sich die unbezahlten Rechnungen. «Sorge dich nicht», sagte ihr da ihre beste Freundin Esperanza. «Ich gebe dir Geld, und du machst mir einen winzigen Gefallen.»

Am nächsten Tag hielt ein Taxifahrer vor ihrer Wohnung und überreichte ihr zwei Migros-Säcke gefüllt mit Toilettenpapier, Poulet, Waschmittel, Gemüse und Reis. Louisanna händigte ihm dafür 1000 Franken Kurierlohn aus, die sie vorgängig von Esperanza erhalten hatte, und trug die Einkaufstaschen nach oben. Am gleichen Abend kam ihre Freundin vorbei, nahm die Säcke entgegen und drückte ihr für ihre Dienste einen Tausender in die Hand.
Zwei Jahre später flog die Bande auf, und im Laufe der Ermittlungen stiess die Polizei auf Louisannas ­Telefonnummer. Der Kurier gestand, ihr an jenem Tag neben Lebens- und Reinigungsmitteln auch fünf Kilo Kokaingemisch von ordentlicher Qualität geliefert zu haben, das für Esperanza bestimmt war.

«Ich wusste nicht, was drin ist»
Louisanna kam fünf Wochen in Untersuchungshaft, und ihre grösste Angst war, dass man ihr die Kinder wegnimmt. Sie räumt ein, dass sie für einige Stunden zwei Migros-Säcke bei sich aufbewahrt hatte und dafür 1000 Franken erhielt. «Aber ich wusste nicht, was drin ist», sagt sie mit piepsendem Stimmchen. «Und ich habe mir auch keine Gedanken darüber gemacht, ob da was Komisches drin sein könnte.» Sie sei in Not gewesen und dabei schamlos ausgenützt worden, so benennt der Verteidiger das Verhängnis.

Die Richterin wertet ihr Verschulden als nicht leicht und bestraft sie mit 22 Monaten bedingt. Eine Notlage habe nicht bestanden, sie erhalte genügend Sozialhilfe und hatte überdies mehr als 5500 Franken im Sparstrumpf, um mit ihrer 5-köpfigen Familie in die Dominikanische Republik zu fliegen. Dieses Geld wird nun zur Deckung der Verfahrenskosten eingezogen.                             

* alle Namen geändert

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