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Reportage

Werkbundsiedlung Neubühl an der Ostbühlstrasse in Wollishofen. Bild: H. Wehrli

Ein Leben wie im Museum

Von: Urs Hardegger

08. März 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Ostbühlstrasse.

Mehr als 12 000 Menschen pilgerten im September 1931 an die Ostbühlstrasse nach Wollishofen, um die neue Siedlung zu besichtigen. Zwar war das Neubühl mit insgesamt 200 Wohnungen noch nicht fertiggestellt, doch das Interesse war riesig. Mit der Mustersiedlung wollten sieben junge Werkbundarchitekten «technische und formale Neuerungen der Architektur» mit den menschlichen Grundbedürfnissen nach Licht, Luft und Sonne in Einklang bringen. Sowohl die Monumentalität des Historismus als auch die dekorative Ornamentik des Jugendstils ablehnend, zeigten diese Vertreter des «Neuen Bauens» städtebauliche Alternativen zu den festungsartigen Blockrandbebauungen auf.

Die Architektur war es auch, welche Susanne Wahl und Thomas Lehmann vor zwölf Jahren bewog, mit damals noch einem Kind, ins Neubühl zu ziehen. Ihre Begeisterung für die schlichte Bauhaus-Architektur ist noch immer zu spüren, als sie bei einem Kaffee vom Leben im Haus und in der Siedlung berichten. Allerdings müssen sie auch Einschränkungen in Kauf nehmen. 4 Zimmer, 78 Quadratmeter für nun vier Personen sind nicht viel. «Die Raumausstattung ist schlicht, aber durchdacht. Wie in einem Wohnwagen muss jedes Eckchen optimal genutzt werden», berichtet das Paar.

Weniger ist mehr

Keinen überflüssigen Luxus, lautete das Credo der Architekten. Der Mensch und seine Grundbedürfnisse sind das Mass aller Dinge! Deshalb verzichteten sie auf jede überflüssige Repräsentation und richteten ihr Augenmerk auf die Ausgestaltung gesunder und praktischer Innenräume. «Wir leben hier ein bisschen wie im Museum», stellen die Lehmanns fest. Die Bestimmungen des Denkmalschutzes seien manchmal restriktiv, verhinderten zum Beispiel Velounterstände oder schränkten die Bepflanzung ein. Aber insgesamt würden die Vorteile überwiegen, da dadurch der Gesamtcharakter der Siedlung erhalten bleibe. Das Miteinander sei sehr ausgeprägt, nicht nur die Genossenschaftsversammlung sei gut besucht, auch fänden jedes Jahr zahlreiche Feste und Anlässe statt.

Nichts weniger als den Platz der Architektur im Städtebau neu bestimmen wollten die Architekten, die sich im Werkbund zusammentaten. Verbindende Figur war Karl Moser, der ab 1915 an der ETH Zürich lehrte. Seine Vorlesungen wurden zum Magnet für fortschrittliche Architekturstudenten. Man richtete den Blick ins Ausland und begann sich mit neuen Fragestellungen zu beschäftigen. Klare Formen, Funktionalität und Sozialverträglichkeit rückten ins Zentrum, neuartige Materialien wie Stahl, Glas und Beton kamen zur Anwendung.

Auf dem Spaziergang durch die Siedlung zeigt mir Thomas Lehmann die unterschiedlichen Wohnungstypen, die Gemeinschaftsräume, Ateliers und Ladenlokale, die zum Ensemble gehören. Fast alle Häuser sind streng nach Süden ausgerichtet. Angeordnet wie ein Fischgrat, schmiegen sie sich in die Landschaft auf dem Moränenhügel zwischen Seebecken und Albis ein. Der Anspruch des «Neuen Bauens» war hoch. Doch kann die Architektur die Menschen zu einem neuen Lebensstil führen? Bleiben bei einer so technischen Bauweise nicht Ästhetik und Gemütlichkeit auf der Strecke? Die Reaktionen der Zeitgenossen waren geteilt. Die Architekten hätten sich mit ihrem Mut «einen Meistertitel» verdient, schrieben die einen begeistert, andere kritisierten die kühle Atmosphäre, die fehlende Möglichkeit zur individuellen Gestaltung oder taten die Siedlung als simple Zweckarchitektur ab. Die Kritiker sind verstummt. Denn auch nach fast 85 Jahren erfüllt die Architektur ihren Zweck. Die Familie Lehmann beweist es. Mehr noch, auf einem Gang durch die Ostbühlstrasse erlebt man ein lebendiges Stück Zürcher Architekturgeschichte.

Quellen:
Marbach Ueli, Rüegg Arthur: Werkbundsiedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen 1928–1932. Zürich 1990. NZZ vom 19. 9. 1931 und 20. 12. 1932.

Lesen Sie am 23. März den Beitrag zur Piazza Cella.

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