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Reportage

Wäre für die Namensgeberin ein erfreulicher Anblick: Unbeschwert spielende Kinder auf der Nettie-Sutro-Strasse. Bild: Regula Weber

Ein Lichtblick in dunklen Zeiten

Von: Urs Hardegger

27. Juni 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Nettie-Sutro-Strasse.

Nicht wegsehen! An der Not anderer Menschen Anteil nehmen! Diese Maxime veränderte das Leben von Nettie Sutro (1889 bis 1967) von Grund auf. Als sich das deutsche Ehepaar Nanette und Erich Katzenstein nach den Münchner Revolutionswirren von 1919 in der Schweiz niedergelassen und sie ihre Studien in Philosophie und Soziologie beendet hatte, waren alle Vo-raussetzungen für ein sorgenfreies Leben gegeben. Sie übersetzte unter ihrem Künstlernamen Sutro Bücher, arbeitete für den Rundfunk und schrieb Prosa. Doch dann stürzte im Januar 1933 die Machtübernahme Hitlers die Welt ins Chaos. Zahllose Menschen mussten wegen ihres Glaubens oder ihrer politischen Einstellung Hals über Kopf flüchten und verloren Hab und Gut. Das rüttelte Nettie Sutro auf.

Ihr ist ein kurzes Quartiersträsschen am Stadtrand in Zürich-Affoltern gewidmet. Auf der einen Strassenseite stehen vier sechsstöckige Backsteinquader, die 2007 als Teil der Ruggächer-Genossenschaftssiedlung erstellt wurden. So sieht verdichtetes Bauen im 21. Jahrhundert aus: Minergie, familienfreundlich, hindernisfrei, Wohnen im Alter, Komfortlüftung und ÖV-Anbindung. Trotz Bahngleisen und der wenig entfernten Nordumfahrung wohnt es sich hier ruhig. Von Zeit zu Zeit ein Zug, das Plätschern eines renaturierten Baches und das Lachen der Kinder des nahen Schulhauses sind zu hören.

Das Lachen war damals in den 1930ern aus zahlreichen Kindergesichtern verschwunden. Zum Beispiel aus den Gesichtern der vorwiegend jüdischen Flüchtlinge in Paris, die in elenden Verhältnissen lebten. Sutro gründete mit gleichgesinnten Frauen ein Hilfswerk, organisierte medizinische Unterstützung, ein Tagesheim und Kinderferientransporte in die Schweiz, wo man die Kinder privat und in Heimen aufpäppelte und einkleidete. Spenden aus allen Bevölkerungskreisen, Freiplätze und Patenschaften finanzierten die Aufenthalte. Sutro hatte ihre eigentliche Lebensaufgabe gefunden. Notgedrungen musste sie das Tätigkeitsfeld bald erweitern. 1938 gelang es ihr, nach dem Anschluss Österreichs 222 Flüchtlingskinder aus Wien und – nach den Judenpogromen in Deutschland – 300 gefährdete Kinder aus Frankfurt in die Schweiz zu holen und die Kinder in Schweizer Familien unterzubringen.

Der Bürokratie getrotzt

Nicht nur für die Flüchtlinge war die Situation schwierig. Auch für diejenigen, die helfen wollten. Hinter administrativen Schikanen und rigiden Einreisebestimmungen verbargen sich Fremdenangst und Antisemitismus. Heinrich Rothmund, der Chef der Fremdenpolizei, warnte wiederholt vor der «Verjudung der Schweiz». Auch wenn es viele Entscheidungen gab, welche die Frauen «nur schwer einsehen konnten», liessen sie sich nicht abwimmeln. Sie verhandelten geschickt und hartnäckig, um die bürokratischen Widerstände zu lockern. So erreichten sie da eine Einreiseerlaubnis, dort eine Aufenthaltsbewilligung, konnten hier eine Fristerstreckung oder dort eine Lagerbefreiung durchsetzen. Mit all seinen Aktivitäten betreute das Hilfswerk von 1933 bis 1947 mehr als zehntausend vorwiegend jüdische Kinder aus ganz Europa.

Auch nach dem Krieg reiste Sutro unermüdlich durch Europa, um Kindern, deren Eltern im Holocaust umgekommen waren, zu helfen. 1952 gründete sie in Jerusalem das Schweizer Kinderdorf Kirjath Jearim, wo schwer geschädigte Kinder aus Buchenwald und Bergen-Belsen betreut wurden. «Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist ein Museum des Horrors», hat der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón einmal gesagt. Stimmt, aber es brachte auch Menschen hervor, die Aussergewöhnliches geleistet haben. Nettie Sutro gehört zu ihnen.

Quellen:
Sutro, Nettie: Jugend auf der Flucht (1933–1948). Zürich 1952.
Kovács, Ildikó: Bürgersfrau, Historikerin, Flüchtlingshelferin. In: H. Kanyar Becker (Hrsg.) Vergessene Frauen, ­Basel 2010.

Lesen Sie am 12. Juli den Beitrag zur Röntgenstrasse.

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