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Reportage

Entspannte Atmosphäre am Bullingerplatz. Bild: H. Wehrli

Ein Moralapostel steht für Lebensfreude

Von: Urs Hardegger

17. Mai 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Bullingerplatz.

Wie nimmt man einen verlorenen Platz wieder in Besitz? Jahrzehntelang gehörte der Bullingerplatz zu einem der am meisten vom Durchgangsverkehr geplagten Orte der Stadt. Nach der Eröffnung der Südumfahrung 2010 wurde er zur Begegnungszone. So erhielten die Quartierbewohner ihren Platz zurück, und das ganze Quartier erfuhr eine Aufwertung. Die Mieten sind, dank des hohen Genossenschaftsanteils, trotzdem vielerorts nur moderat gestiegen.

Für Zürcher Verhältnisse ist der «Bullinger» ein stattlicher Platz. Sechs Strassen führen sternförmig bei ihm zusammen, weshalb er von Quartierbewohnern auch Place de l’Etoile genannt wird. Abgegrenzt von den Doppelpfarrhäusern, der ABZ-Siedlung und der Kirche, sprudelt aus dem runden Springbrunnen auf dem geometrisch angelegten Rondell das Wasser in die Höhe.

Veränderungen gehen nicht von einem Tag auf den andern. Die Autofahrer mussten sich erst an das neue Verkehrsregime gewöhnen. Viel zu schnell fuhren sie durch die Begegnungszone, zu stark vermittelte ihnen die Platzanordnung das Gefühl eines Kreisels. Erst die Belegung der einen Seite mit Pflanzkisten machte deutlich, dass es sich um eine Quartierstrasse mit Gegenverkehr und Tempo 20 handelt. Eine einfache, aber wirksame Beruhigungsmassnahme.

Seit drei Jahren betreibt Nushin Coste das hippe Café du Bonheur. Mit Möbeln aus dem Brockenhaus führt sie ein einfaches, aber gepflegtes Quartierbeizli. Das Interieur wirkt heimelig, lädt Jung und Alt ein, sich hier zu einem Schwatz zu treffen. Auf dem Aussensitzplatz sieht man an schönen Tagen Mamis mit ihren Kindern, plaudernde Rentner und Studierende am Computer. Hier ist ein lebendiges Zentrum des Hardquartiers entstanden.

Der Namensgeber Heinrich Bullinger (1504–1575) führt uns 500 Jahre zurück in die bewegte Zeit der Reformation. Sie hatte Europa in zwei unversöhnliche Lager gespalten, zudem forderten Wiedertäufergemeinschaften den neuen Glauben heraus, und aufmüpfige Bauern verlangten die Aufhebung der Leibeigenschaft. Bullinger trat die Nachfolge Huldrych Zwinglis an, der 1531 im Zweiten Kappelerkrieg den Tod gefunden hatte. Ein schwieriges Erbe. Noch waren die neuen Glaubenssätze nicht gefestigt, und es wurde um die Fragen des Zölibats, der Heiligen- und ­Bilderverehrung oder der Auflösung der Klöster heftig gestritten. Zudem bestimmten Krankheit, Sterben und Tod das Leben der  Menschen. Ständig bedrohten Pestepidemien die Bevölkerung. Dreimal trat die Pest in Bullingers Amtszeit auf und raffte insgesamt ein Drittel der Zürcher Bevölkerung dahin. Bullinger selbst erkrankte daran und verlor seine Frau und drei seiner Kinder.

Fleissig und fromm

Wenn Bullinger heute vom Kirchturm der nach ihm benannten Kirche das fröhliche Treiben auf dem Platz beobachtete, er könnte wahrscheinlich wenig damit anfangen. Er lebte in einer Zeit, in der Staat und Kirche das öffentliche Leben vollständig bestimmten und die Menschen in ein enges Verhaltenskorsett zwangen. Wer Gott lästerte, fluchte, jemanden verleumdete, dem Gottesdienst fernblieb oder den Sonntag nicht heiligte, wurde bestraft. Das Ehegericht ahndete auch Völlerei, Ehebruch, Vielmänner und -weiberei, vorehelichen Beischlaf und Ehestreit. In den Sittenmandaten war festgelegt, wie ein moralisch einwandfreies, im christlichen Glauben verankertes Leben auszusehen hat. In unzähligen Schriften kämpfte Bullinger gegen das menschliche Laster an. Nicht Lebensfreude, sondern Beharrlichkeit, unermüdlicher Fleiss und Pflichtbewusstsein bildeten für ihn die obersten Maximen des Lebens.

Diese moralische Enge ist verschwunden, und die Lebensfreude ist auf dem Bullingerplatz wieder aufgeblüht. Nomen braucht nicht immer Omen zu sein.

Quellen:
Campi, Emidio: Heinrich Bullinger und seine Zeit. Zürich 2004.

Lesen Sie am 1. Juni den Beitrag zum Napfplatz.

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