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Reportage

Als das Glück zu verdämmern schien, erinnerte sich Josef an die letzten Sonnenstrahlen, die hinter dem Berggipfel herüberschienen. Bild: iStock

Eine Reise der Hoffnung

Von: Eine Ostergeschichte von Jan Strobel

07. April 2020

Wo es Schatten gibt, da ist immer auch Licht. Das ist eine der Kernbotschaften der Ostertage. Und das erfährt auch der junge Bauernsohn Josef in dieser Geschichte. In seiner Südtiroler Heimat erlebt er die menschlichen Zerrüttungen während des Ersten Weltkriegs, in denen Träume keinen Platz haben. Nach Kriegsende will er sich in Zürich eine neue Zukunft aufbauen. Doch hier wütet die Spanische Grippe. Dann hat er eine Begegnung, die nicht nur ihn aus dem Dunkel holt.

Wenn Josef in seiner Mansarde in Zürich-Aussersihl an Ostern dachte, dann kam ihm zuerst Katharina in den Sinn. Sein Geist war in diesen Momenten weniger erfüllt von seiner alten Südtiroler Heimat als vielmehr von Katharinas Gestalt, er hielt sie fest in seiner Fantasie. Ihr weisses Kleid in der Wiese des anbrechenden Frühlings; ihr halboffener Mund, kurz, bevor sich ihre Lippen trafen; ihr schwarzes Haar, schimmernd in den letzten Sonnenstrahlen, die hinter dem Berggipfel herüberschienen; ihr Duft nach Himbeerwasser.

So viele Mädchen hatte es in seinem Südtiroler Dorf gegeben, blonde, braune und schwarze. Aber keine war wie die Katharina gewesen, keine hatte er geliebt. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. So wenig meint Liebe schliesslich die körperliche Existenz eines Menschen. Katharina war wie ein Licht gewesen in jenen Tagen des Kriegs, eine Erlösung, eine kurze Auferstehung, man konnte auch sagen: Die Liebe war das Licht in diesem Dunkel. Aber der Krieg war stärker gewesen, damals, 1917.

Das wurde Josef immer wieder klar, wenn er im Hotel Karner in Prad am Stilfserjoch den Oberst Lempruch und seinen Stab bedienen musste, ihnen Gewürztraminer einschenkte und Schüttelbrot und Speck auftischte, die sie mit militärischer Gehässigkeit vertilgten. Lempruch befehligte die Truppen der österreichisch-ungarischen Armee an der Front gegen die Italiener und hatte im Hotel sein Hauptquartier eingerichtet. Die Stimmung war aufgeräumt. Man erwartete den Kaiser aus Wien zum Frontbesuch.

Wenn Josef im Hotel Karner aushalf, dann sah er dort immer öfter auch Katharina. Sie sass auf dem Schoss des Leutnants Almássy aus Budapest mit seinem feschen Schnauzbart und den gelangweilten Augen. Es lief dem Almássy hier in den Alpen zu wenig, zu wenig Krieg. Da konnte auch der Kaiser nicht helfen, höchstens die Katharina, wenn sie ihn mit ihrem Himbeerwasser-Duft bezirzte und sich an seine Uniform schmiegte.

Für Josef hatte sie schnell keine Augen mehr. Es war, als ob der Kuss auf der Wiese nie stattgefunden hätte. Das Licht des Glücks war verdämmert und Josef blieb in der Dunkelheit zurück, die noch dunkler wurde, als ihn einige Wochen später die Nachricht vom Tod seines geliebten Bruders Anton erreichte. Anton war in der Schlacht am Isonzo gefallen. Nichts war Josef mehr geblieben. Auch die Eltern waren unlängst gestorben.

Neues Leben in Zürich

Dass etwas in der Seele dieses Jungen abgestorben war, hatte auch der Dorfpfarrer Gamper erkannt. Ja, der Tod schien Josefs Jugend versengt zu haben. Er nahm den Unglücklichen am Grab des Bruders ins Gebet: «Du stirbst, damit du lebst. Die Katharina, der Anton, ja selbst unser Kaiser und sein Reich, sie sind vergänglich. Aber auch wenn alles zerfällt: Aus dem Zerfall wächst neues Leben. Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner grossen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.» Und der entrückte Blick des Pfarrers ging hinauf zum Kreuz seiner Kirche St. Georg. Bald, so hoffte Josef, würde der Krieg tatsächlich zu Ende sein.

Hoffnung, das Wort liess in Josef, der sonst mit Jesus Christus nicht besonders viel anfangen konnte, das Bild jener Sonnenstrahlen wieder lebendig werden, die hinter den Bergen den Morgen ankündigten. Als der Kaiser und das Reich und der Oberst Lempruch und Leutnant Almássy tatsächlich mit dem Krieg untergegangen waren, machte sich Josef auf den Weg in ein neues Leben.

Mit sich in die Schweiz nahm er, aufgehoben in seiner Seele, das Bild Katharinas. Sie war da, auch wenn sie nicht bei ihm war. Sie fuhr mit ihm durch die geliebten Berge in Richtung der fremden Stadt. Sie war bei ihm, als er am Hauptbahnhof Zürich ausstieg und der kalte Regen mit nasser Zärtlichkeit seine Haare streichelte. Glücklich machte das Josef nicht.

Gerade war der März des Jahres 1919 angebrochen. Pfarrer Gamper hatte die Reise organisiert und dabei auch seine Verbindungen in die Schweiz spielen lassen. Immerhin hatte sich sein frommer Cousin Franz zusammen mit seiner Frau Zita schon vor dem grossen Krieg wie viele andere Österreicher in Zürich niedergelassen.

Franz arbeitete im Grand Café Astoria an der St. Peterstrasse als Kellner. Und genau hier konnte jetzt auch Josef sein neues Leben beginnen. Im Astoria gab es keinen Oberst und keine Offiziere, es gab aber auch keine Katharina. Statt Gewürztraminer und Schüttelbrot servierte Josef jetzt Dôle, Stäfner oder Rheinweine.

Manchmal gab es Wohltätigkeits-Konzerte für die Arbeitslosenfürsorge. Das Orchester spielte dann Richard Wagner, den Josef natürlich nicht kannte. Früher, im Hotel Karner während des Kriegs, hatten die österreichischen Offiziere immer aus Lehars «Lustiger Witwe» gesungen, oder vielmehr gegrölt, Katharina mittendrin. Josef konnte die Worte auswendig: «Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen: Hab’ mich lieb! All’ die Schritte sagen bitte, hab’ mich lieb! Jeder Druck der Hände deutlich mir’s beschrieb, er sagt klar: ’s ist wahr, ’s ist wahr, Du hast mich lieb!» Allein in seiner Mansarde in Aussersihl wiederholte Josef immer wieder diese Strophe. Und jedes Wort schmerzte. Und jeder Schluck Wein milderte, trügerisch, den Schmerz.

Der verzweifelte Arzt
Jeden Nachmittag setzte sich Doktor Burri an seinen Tisch in der Bündnerstube des Grand Cafés. Er liess sich von Josef, der ihm in dieser kurzen Zeit ans Herz gewachsen war, die gebügelte Zeitung bringen und dazu einen schwarzen Kaffee. Burri betrieb eine Praxis an der Fraumünsterstrasse, und er machte auf Josef schon seit längerem einen äusserst besorgten Eindruck. An diesen vorösterlichen Tagen sass er wie ein Stückchen Winter mitten in der vom ankommenden Frühling aufgeheiterten Stimmung der anderen Gäste im Astoria.

Neulich hatte der anerkannte Arzt einen Artikel in der Zeitung veröffentlicht unter dem Titel «Über die Grippe». Tatsächlich war es die Zeit, als auch in Zürich die Spanische Grippe schon seit fast einem Jahr als unheimlicher Gast wütete. Josef hatte damals in seinem Dorf im Südtirol schauerliche Geschichten über diese Krankheit gehört von Soldaten, die von der Front zurückkehrten, aber erst durch die Gespräche mit Doktor Burri erhielt die Pandemie sozusagen eine wissenschaftlich geformte Gestalt.

An einem jener Nachmittage im Grand Café blickte Doktor Burri wieder versonnen und düster in den Raum und ergriff unwillkürlich die Hand seines Lieblingskellners. «Mein lieber Josef, das Gedächtnis der Ärzte ist kurz, und das der Laien ebenfalls. Wir sind überall erstaunt über die Bösartigkeit dieser Grippe und haben ganz vergessen, wie wir mit einer solchen Situation umgehen sollen. Die Gleichmütigkeit, mit der die Menschen diese Seuche hinnehmen, sie macht mich traurig. Der natürliche Tod hat an Sensation verloren, die Menschen waren durch den Krieg an den Waffentod gewöhnt.»

Doktor Burri versuchte zu lächeln, es war ein Lächeln wie eine eiserne Klammer. «Weisst du, mein lieber Josef, auch meine Tochter Johanna wurde von der Seuche heimgesucht. Sie liegt im Bett, ich habe ihr Aspirin verabreicht, dazu Phenacetin und heisse Zitronenlimonade. Aber das ist nicht, was sie braucht. Mein medizinisches Wissen, meine Sprache, sie sind ausgeschöpft. Was sie braucht, ist Hoffnung, ein Mensch, dessen Jugend noch nicht versengt wurde. Ich bitte dich: Besuch meine Tochter, hilf mir, ihr Leiden zu lindern.»

In Josef ertönte mit Burris Appell unweigerlich wieder die Stimme Pfarrer Gampers. War es nicht diese Hoffnung gewesen, die ihn vor dem Dunkeln in seiner Seele bewahrt hatte, vom Gefühl der Ausweglosigkeit und der Nutzlosigkeit? Warum jetzt, an Ostern, nicht anderen etwas Licht in die Sprachlosigkeit senden? Du stirbst, damit du lebst. Josef beschloss, dem Wunsch des Doktors nachzukommen.

Es war Ostersonntag, als Doktor Burri Josef ins Schlafzimmer seiner Tochter Johanna führte. Sie lag dort tief in die Kissen versunken. Der Zürcher Morgen schwamm ihr durch die Jalousien entgegen, golden und warm, aber auch gleichgültig. Der Welt war es schliesslich egal, ob es eine Johanna gab. Die Kirchenglocken läuteten den Feiertag ein.

Die Nacht hatte um das bleiche Gesicht der Kranken Schatten gezeichnet, bläulich-schwarze Verfärbungen auf der jugendlichen Haut. Johanna hustete, sie fieberte. Ihr schwarzes Haar klebte an ihrer verschwitzten Stirn. Josef reichte ihr einen Schluck der heissen Limonade, noch einmal blickte er zu Doktor Burri, der ihm ermunternd zulächelte.

Josef nahm Johannas Hand, und es war für einen kurzen Moment wie damals, als er Katharinas Hand in seiner spürte, nur dass jetzt Katharinas Gesicht verschwunden war. Josef hatte nicht nur seine Heimat verloren, sondern auch die Sehnsucht nach dieser Heimat. Und das war ein unbeschreiblich befreiendes Gefühl. Es war eine Erneuerung. Jetzt streichelte er die verschwitzte Stirn der Kranken, jetzt lächelte er ihr zu, jetzt lächelte sie zurück, jetzt hörten die Kirchenglocken auf zu dröhnen.

Und es geschah, dass Josef wirklich eine Antwort erhielt, eine, die er zuvor nie in seinem Leben gehört hatte: «Ich danke Ihnen», hauchte ihm Johanna entgegen, befreit von einer Last, weil es da immer noch pralles Leben gab, das den rauen Händen und aus den Blicken dieses einfachen Kellners entströmte. Sie waren zwei junge Menschen, die noch nicht bereit waren zu wissen, wie vergänglich sie sind. Die an die Liebe glaubten und deshalb auferstehen mussten aus dem Schatten, der sie viel zu früh ereilt hatte.

Jahre später, an einem Ostertag, erinnerten sich Josef und Johanna wieder an diesen Moment, als sie beide den Vorhang geöffnet hatten, der das Lebendige vom Gestorbenen trennt. Sie sassen auf dem Dampfschiff Richtung Rapperswil, vor ihnen breitete sich die Bläue des Zürichsees aus. Ihre beiden Kinder spielten an der Reling, und der Wind spielte in Johannas Haar.

Im Salon des Schiffs spielte eine kleine Kapelle aus der «Lustigen Witwe». Neben Josef hatte sich ein älterer Herr gesetzt, der ein wenig wie Oberst Lempruch aussah. Er zeigte mit seinem gelüfteten Hut auf die spielenden Kinder und lächelte dem Paar zu. «Sie habens gut!», sagte er. «Ja, wir habens gut!», antwortete Josef.

Nach seiner Ankunft in Zürich im März 1919 begann Josef als Kellner im Zürcher Grand Café Astoria (Bild unten) zu arbeiten. Hier kam es zu einer schicksalhaften Begegnung mit einem Gast. Bilder: JS / Baugeschichtliches Archiv

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