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Reportage

Eine Strasse erfindet sich neu

Von: Jan Strobel

17. Februar 2015

Weststrasse: Der frühere «Auspuff der Nation» hat rund fünf Jahre nach der Verkehrsberuhigung den Wandel zum Trendquartier endgültig vollzogen.

«Ich sage Ihnen: Es wird sich alles noch stärker verändern, es ist ein gesunder Prozess, der hier gerade stattfindet, und dieses neue Restaurant ist ein weiterer Meilenstein. Wir freuen uns sehr darauf», sagt Ayal Haneman, und er blickt hinüber auf die andere Strassenseite, Richtung Lochergut. Wo sich früher ein Sexshop befand, wird diesen Sommer das Restaurant Lily’s eine neue Filiale eröffnen. Für das Quartier rund um die Weststrasse ist das ein gewichtiges Ereignis, das noch einmal mit grosser Symbolkraft zeigen wird, wie stark sich das Leben hier verändert. Es wird dann genau fünf Jahre her sein, seit der ehemalige «Auspuff der Nation» 2010 für den Durchgangsverkehr gesperrt wurde.

Haneman versprüht eine Euphorie, die sich bewusst den oft lamentierenden und pessimistischen Berichten und Thesen über die Gentrifizierung des Quartiers entgegenstellen möchte, ein Optimismus, der sich fast schon unzürcherisch Bahn bricht. Der Mann  wollte und konnte sich dem Wandel nicht trotzig verweigern, sondern die Chance zu einem Aufbruch für sein geliebtes Quartier nutzen, in dem er seit sechs Jahren lebt. Zusammen mit seiner Frau eröffnete er deshalb letzten August an der Sihlfeldstrasse 57 seinen Laden Fein & Dein. Das Paar verkauft hier einerseits exquisite, selbst designte Möbelstücke, andererseits Spezialitäten aus Hanemans Heimat Israel wie Oliven oder selbstgemachten Hummus. Früher befand sich hier ein Velohändler, der seinen Standort nach Wädenswil verlagert hat, einer von vielen Kleinbetrieben, die an der Weststrasse verschwunden sind und Neuem Platz machten. Hinter jedem, der nicht mithalten konnte mit der Veränderung, steckt ein persönliches Schicksal. Wie dasjenige von «Tante Ruth», die einmal an der Weststrasse 162 das Glarnerstübli betrieb, eine urchige Quartierbeiz, in der sich am Schluss nur noch eine kleine Schar Stammgäste zum Jass traf. Die Urzürcherin musste aufgeben. Heute befindet sich hier ein chinesisches Restaurant, umgeben von Fassaden hinter Baugerüsten.
Kaum an einem anderen Ort in der Stadt wird so beherzt abgerissen oder renoviert. Kritiker sagen: skrupellos aufgewertet. Zum Beispiel an der Weststrasse 117 und 119. Das ehemalige Gewerbehaus wird gerade in ein stattliches Wohnhaus umgenutzt. Einen Katzensprung weiter, an der Weststrasse  136, stehen per 1. August 2½- bis 3½-Zimmer-Wohnungen zum Erstbezug bereit. Die 2½ Zimmer, 46 m2, sind für 1900 Franken im Monat zu haben, die 3½ Zimmer für monatlich 2510 Franken. Ein Vergleich auf der Suchplattform Homegate zeigt, dass diese Mietzinse mittlerweile für das gesamte Quartier Wiedikon üblich sind, zumindest, wenn die Wohnungen nicht einer Genossenschaft, einer Stiftung oder der Stadt gehören. Und grundsätzlich sind aufwendige Neu- und Umbauten mit einer damit einhergehenden Mietzinserhöhung  überall entlang der Weststrasse möglich. Nur ein einziges Gebäude, Hausnummer 122, ist im Inventar des Denkmalschutzes aufgeführt. Der augenfälligste Neubau, gewissermassen das Wahrzeichen der Gentrifizierung, ist der Wohnturm an der Weststrasse 20, der unlängst als architektonischer Wurf gefeiert wurde.  Im achten Stock ist gerade ein «Design-Apartment für aktive Städter» frei geworden, 4 Zimmer für 4800 Franken im Monat. Dieser Wandel der Weststrasse sei eben auch ein Spiegel der heutigen innerstädtischen Gesellschaft, meint Ladenbesitzer Haneman, ob einem das gefalle oder nicht. «Und es ist ja nicht so, dass die Durchmischung verschwunden wäre.» Neben all den neuen Cafés, Galerien oder Designagenturen gebe es immer noch eine erstaunliche Vielfalt. «Sie haben hier die ganze Welt vor sich, indische oder äthiopische Restaurants - und jetzt auch einen Israeli», schmunzelt er.

Für Stadtforscher ist die Weststrasse ein willkommenes Anschauungsobjekt, wie der Prozess der Gentrifizierung vor sich gehen kann. Zuerst sind da die Pioniere: Kreative, Studenten, Alternative. Sie ziehen den neuen städtischen Mittelstand an, der an diesen urbanen Lifestyle anknüpfen will. Dieser Trend wiederum lockt Investoren. Es kommt zu lukrativen Handwechseln, Grundsanierungen, die Mieten steigen, bisherige Anwohner werden verdrängt. Fünf Jahre nach der Verkehrsberuhigung hat die Gegend rund um die Weststrasse die Pionierphase hinter sich gelassen und den Wandel zum Trendquartier endgültig vollzogen, spätestens mit der Eröffnung des Lily’s diesen Sommer.

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Leserkommentare

walter spörri - Es ist nur eine Frage der Zeit bis der Konkurskuku an der Türe klebt .Wenn man im Tagblatt diese
Seiten öffnet wird es einem schwidlig von den Restaurantkonkursen.

Vor 9 Jahren 2 Monaten  · 
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