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Reportage

An der Engelstrasse befindet sich das Café Le Mur, das kleinste Lokal der Stadt.Bild: H. Wehrli

Eine Strasse für die Zürcher Amazone

Von: Urs Hardegger

06. September 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Engelstrasse.

Es war ein glücklicher Zufall, der mich ins Le Mur an die Engelstrasse in Aussersihl führte. Das mit achtzehn Qua­dratmetern sicherlich kleinste Café der Stadt war eine Entdeckung. Bereits wenn man zu dritt an der Theke steht, wirds eng, nur gerade fünf Sitzgelegenheiten hat es im Innern. Vertrauliches tauscht man hier besser nicht aus, denn es bleibt nichts verborgen. Dafür erhält man guten Kaffee, einfache Mahlzeiten und selbst gemachte Kuchen «wie bei Muttern».

«Regula Engel-Egli (1761–1853) – Schweizerische Amazone – nahm an den Napoleonischen Kriegszügen teil» steht auf dem Strassenschild unweit des Cafés. Verwundert reibe ich mir die Augen. Habe ich richtig gelesen? Wer war diese kriegerische Frau? Vielleicht eine helvetische Antwort auf Jeanne d’Arc? Ich wollte mehr wissen und vertiefte mich in ihre Lebensbeschreibung, die erstmals 1825 erschien.

In Waterloo verwundet

Das Licht der Welt erblickte Regula Egli 1761 in Fluntern, damals ein Bauerndorf vor den Stadttoren Zürichs. Gerade mal siebzehn war sie, als sie «einen schönen, stattlichen Mann, den seine Uniform sehr wohl kleidete» kennen lernte: Florian Engel, Offizier in französischen Diensten. Sie heiratete ihn und folgte ihm von da an von Kaserne zu Kaserne. Nachdem der Königstreue während der Französischen Revolution nur knapp der Exekution entgangen war, stellte er sich in den Dienst der Republik. Unter Napoleon beteiligte er sich an den Feldzügen in Holland, Italien und Ägypten; seine Frau war stets im Begleittross dabei. Minutiös und erstaunlich gleichmütig erzählte Regula Engel von den Schrecken des Krieges: «Da lag noch eine Menge unglücklich verstümmelter, elender, auch zum Theil venerischkranker halbfauler Menschen, die nichts als einen gewissen, langsamen, qualvollen Tod vor sich sahen und alle Augenblicke baten, dass man sie doch tödten möchte.» Austerlitz, Leipzig, Waterloo: Glaubt man Regula Engel, dann war sie bei allen grossen Schlachten dabei und beteiligte sich sogar manchmal in Männeruniform an den Kämpfen. Napoleons Niedergang war auch der ihre. In Waterloo kamen ihr Mann und zwei Söhne ums Leben, sie selbst wurde schwer verwundet.

Insgesamt 21 Kinder brachte Regula Engel zur Welt. Über deren Erziehung machte sie sich kaum Gedanken. Jeweils die Jüngsten behielt sie bei sich, die andern gab sie in Pflege. Nur drei von ihnen überlebten ihre Mutter, viele verstarben im Kindesalter oder bei Kriegshandlungen.

Mag manches ausgeschmückt sein, gewisse Episoden gar frei erfunden – ihre «Erlebnisse einer einfachen Frau aus dem Volk» sind trotz allem ein einzigartiges Dokument des Soldatenlebens der napoleonischen Zeit. Vergeblich versuchte die Witwe, sich nach dem Tod des Ehemannes in Amerika niederzulassen. Ihre letzten Jahre verbrachte sie verarmt in Zürich. Auf dem Spitalfriedhof bei der Predigerkirche erhielt sie ihre letzte Ruhe.

Was ich hier suche, fragt mich etwas abrupt, aber keineswegs unfreundlich einer der drei Pensio­näre, die vor dem Altersheim Aussersihl auf einer Bank die Sonne geniessen, Bier trinken und Zigarren rauchen. Man sieht es den verlebten Gesichtern an: keine Männer mit gradlinigen Lebensläufen. Ob ich ein Zimmer benötige, insgesamt 34 hätte es, auch «schräge Vögel» erhielten eine Bleibe, erklärt mir ein anderer und nimmt einen Schluck aus der Bierdose. Ich lehne dankend ab, worauf mir der Dritte trotzdem schon mal die Hausordnung des von einer privaten Stiftung geführten Heimes erklärt.

Ein individuelles Leben. Umstände, Selbstbestimmung oder nur Zufall? Die Mischung ist es, die solche Lebensgeschichten hervorbringt.

Quellen:
Engel, Regula: Frau Oberst Engel. Zürich, 1977.
Engel, Regula: Die Zürcher Amazone. Regula Engel erzählt Zeitschrift «du», 1951/11.

Lesen Sie am 21. September den Beitrag zum Röschibachplatz.

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