mobile Navigation

Reportage

Leicht zu übersehen: Die Ricarda-Huch-Strasse in Zürich-Oerlikon, zwischen Eventhalle und MFO-Park. Bild: Helena Wehrli

Eine Strasse für eine Rebellin

Von: Urs Hardegger

06. Januar 2015

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Ricarda-Huch-Strasse.

Rollkoffer, Aktenmappen und Umhängetaschen sind zum unentbehrlichen Accessoire des Homo oeconomicus des 21. Jahrhunderts geworden. Ständig in Bewegung, gerollt und getragen, sind sie an Werktagen in grosser Zahl an der Ricarda-Huch-Strasse in Zürich-Oerlikon anzutreffen. Requisiten der durchgetakteten Arbeitswelt, in welcher die Strecke zwischen Anfang und Ziel, das lästige Dazwischen, nur noch als Zeitverlust gilt, das es möglichst schnell zu überwinden gilt.

Das Individuum, das sich der Oberflächlichkeit des modernen Lebens widersetzt, tritt in das «Leben mit seinem fröhlichen Wellenspiel» jenseits des Alltagstrotts ein. Das stellt ein wesentliches Element des literarischen Schaffens Ricarda Huchs (1864–1947) dar. An sie erinnert das kurze Strässchen.

Dialekt wie der eines Tatarenvolks

Weil ihre skandalöse Liebesaffäre mit ihrem Cousin und Schwager Richard ein Verbleiben im Hause der Familie verunmöglichte, übersiedelte die Rebellin im Jahre 1887 von Braunschweig nach Zürich. An den befremdlichen Dialekt, der sie anfänglich eher an ein Tatarenvolk erinnerte, gewöhnte sie sich rasch, und die Studienjahre in Zürich wird sie später zu ihren glücklichsten zählen.

Die Universität Zürich war damals einer der wenigen Orte, die ein «Frauenstudium» zuliessen. Huch schrieb sich für die Fächer Geschichte und Philosophie ein und schloss als erste Historikerin Deutschlands im Jahr 1891 mit einer Dissertation zur schweizerischen Neutralität ab.

Eingezwängt zwischen Eventhalle und MFO-Park, ist ihr «Gässchen» leicht zu übersehen. Da, wo man während Jahrzehnten Generatoren, Transformatoren, Schaltanlagen, ja ganze Lokomotiven zusammenbaute, stiehlt ihm nun die begrünte Stahlkonstruktion des MFO-Parks die Show. In der überdimensionalen Gartenlaube geniessen in der warmen Jahreszeit Angestellte ihren Mittag und treffen sich abends Jugendliche zum Stelldichein. Ausserdem bietet der Park die ideale Kulisse für private und geschäftliche Anlässe.

Einer studierten Frau boten sich am Ende des 19. Jahrhunderts noch kaum Arbeitsfelder. Ihren Lebensunterhalt verdiente Huch, indem sie an der Höheren Töchterschule unterrichtete und den Nachlass Gottfried Kellers in der Stadtbibliothek ordnete. «Ein bisschen verträumt, ein bisschen vage und immer mit grosser Delikatesse gekleidet», nahm sie der österreichische Schriftsteller Franz Blei war.

Noch während ihrer Zürcher Zeit erschien, im Jahr 1893, ihr erster Roman. Sie thematisiert darin ihre tragische Liebesbeziehung zum Schwager. Es wird nicht ihre letzte unglückliche Liebeserfahrung bleiben. Aller Illusionen beraubt, stellte sie im Jahr 1911 in einem Brief an eine Freundin fest: «Die hingebende Liebe der Frauen zu den Männern ist offenbar das Verbrechen der Frau, das an ihr heimgesucht wird.»

Ewige Liebe zu Zürich

Huch hinterliess ein breites Werk; in ihren Romanen griff sie immer wieder historische und aktuelle Fragestellungen auf, wie zum Beispiel die Sterbehilfe im Fall Deruga. Gelesen werden ihre Bücher kaum noch. Die grosse alte Dame der deutschen Literatur hätte sicher eine bedeutendere Strasse verdient – in der Stadt, die sie «nie aufgehört hatte zu lieben». Doch die Hoffnung, dass einer der vorbeihastenden Menschen gleichwohl irgendwann einen Blick auf die Strassenbezeichnung wirft und sich den Namen dieser mutigen Frau ins Gedächtnis ruft, gebe ich nicht auf. Dass kürzlich ihr Roman «Der Fall Deruga» neu aufgelegt wurde, lässt zumindest hoffen.

Quellen: Ricarda Huch: Erinnerungen an das eigene Leben, Köln 1980, und: Essay zu Zürich aus den Gesammelten Schriften, Freiburg 1964.

Lesen Sie am 21. Januar den Beitrag über die Emil-Klöti-Strasse.

Werden Sie Facebook-Friend von uns

zurück zu Reportage

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare