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Reportage

Bald werden die Velos auf der Scheuchzerstrasse Vorfahrt haben. Bild: H. Wehrli

Eine Velostrasse für den Universalgelehrten

Von: Urs Hardegger

12. Juli 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Scheuchzerstrasse.

«Zum letzten Grund allen Lebens dringt man nicht mit Wortklaubereien vor, dazu bräuchte es die direkte Naturbeobachtung und den gesunden Menschenverstand.» So lautete das Credo des Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Während seines Medizinstudiums an den Universitäten von Nürnberg und Utrecht lernte er die neuen Leitwissenschaften Mathematik und Astronomie kennen. Dies erschütterte seinen Glauben an die uneingeschränkte Deutungshoheit der Theologie nachhaltig und liess ihn zum Forscher werden.

Mehr Velos als Autos

Exakte Zahlen und direkte Beobachtung stelle auch ich an den Anfang. Die Scheuchzerstrasse ist 1731 Meter lang, hat 172 Gebäude und zählte letztes Jahr 1628 Bewohner. Wie beschreibt man eine so vielfältige Strasse? – Ich nehme sie unter meine Pedalen, denn schliesslich befinde ich mich auf einer der wenigen Strassen Zürichs, auf der mehr Velos als Autos unterwegs sind.

Vom Irchel her radle ich an den Genossenschaftshäusern und dem imposanten Aufgang zur Paulus­kirche vorbei, weiter gehts zu den Reiheneinfamilienhäusern. Heimatstil ist bei der Wohnsiedlung Riedtli und dem gegenüberliegenden Schul­haus angesagt. Grund genug, eine kurze Pause einzulegen.

Nach der Überquerung der Riedtlistrasse folgt das Angenehme: Es geht nur noch bergab. Vorbei an Gemüseauslagen und Gartenrestaurant nähere ich mich rasant dem Universitätsviertel. Dass die Stadt vom Zentrum zur Peripherie gebaut wurde, lässt sich an den Gebäuden ablesen: je näher der Uni, desto stattlicher die Häuser und zahlreicher die Dachgesimse, Vordächer, Erker und verzierten Balkone.

Wie so häufig machte man es dem Propheten im eigenen Land nicht leicht. Die Publikation seiner Werke wurde durch die Zensur ­behindert, und lange Zeit kam Scheuchzer nicht über eine Anstellung als Archivar und Hilfslehrer für Mathematik hinaus. Obwohl er im Ausland hoch geachtet war, blieb die Zürcher Obrigkeit misstrauisch und witterte hinter seinen Forschungen gar Umsturzabsichten.

Akribischer Forscher

Trotzdem können Scheuchzers Verdienste nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er war ein Universalgelehrter und steht für den Wandel, der sich im 17. Jahrhundert im europäischen Geistesleben vollzog. Seine «Naturgeschichte der Schweiz» umfasste nicht weniger als dreissig Manuskriptbände, in denen er alles Wissen zu Bodengestalt, Gebirgskunde, Meteorologie, Mineralien, Pflanzen und Tieren festhielt. Ausserdem schrieb er mithilfe von ungedruckten Chroniken, Jahrzeitenbüchern und Urkunden eine umfassende Schweizer Geschichte. Nicht zu vergessen, sein umfangreiches geografisches Lexikon und seine Schweiz-Karte, die lange Zeit als die beste galt. In seiner «Itinera alpina» finden sich übrigens auch elf wunderschöne Darstellungen von alpinen Drachen. Ein Fabelwesen in einem ­naturwissenschaftlichen Buch? – Scheuchzer selbst zweifelte an ihrer Existenz, aber die Bilder beruhten auf den ihm zugetragenen Erzählungen.

Kurz vor seinem Tod erhielt Scheuchzer doch noch die Anerkennung seiner Vaterstadt. Man wählte ihn zum Stadtarzt und zum Professor für Mathematik. Als Naturforscher, Stadtarzt und Historiker wird er denn auch auf der ­Gedenktafel an der Trittligasse 5 in Erinnerung gehalten.

Die Scheuchzerstrasse als Velostrasse? Dieses Anliegen steht schon lange zuoberst auf der Wunschliste der Pro Velo: freie Fahrt für das Fahrrad und Aufhebung des Rechtsvortritts der Querstrassen. Noch in diesem Jahr möchte die Dienstabteilung Verkehr an der Scheuchzerstrasse einen Pilotversuch wagen. Empirisch überprüfen, ob sich eine Veränderung in der Wirklichkeit bewährt. Dreihundert Jahre nach Scheuchzer ein selbstverständliches Vorgehen.

Quellen:
Fueter, Eduard: Johann Jakob Scheuchzer, Zürich 1938.
Steiger, Rudolf: Johann Jakob Scheuchzer. In: NZZ vom 23. Juni 1933.

Lesen Sie am 31. August den Beitrag zum Fischerweg.

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