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Reportage

Erinnert an einen widersprüchlichen Ernährungswissenschafts-Pionier: Der Bircher-Benner-Platz.Bild: H. Wehrli

Eine Verkehrsinsel für den Rohkostapostel

Von: Urs Hardegger

07. Februar 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Bircher-Benner-Platz.

Wer kennt seine Erfindung, das ­Birchermüesli, nicht? Seine Ori­ginalmischung aus Haferflocken, Äpfeln, Nüssen und Milch und die vielen Abwandlungen sorgen dafür, dass Max Bircher-Benners (1867–1939) Name im Wortschatz erhalten bleibt. Nach ihm wurde eine kleine, bepflanzte Verkehrsinsel am Zürichberg benannt, da, wo Hofstrasse und Keltenstrasse ineinandermünden. Es ist das letzte sichtbare Zeichen des Mannes, der an diesem Ort einst eine ansehn­liche Klinik geführt und ordentlich für Furore gesorgt hat.

Überzeugter Abstinenzler

Aufgewachsen in Aarau, studierte Max Bircher an der Universität Zürich Medizin. Er war von schwächlicher Konstitution. Dies habe ihn für das «Problem der Lebenskraft» sensibilisiert, meinte er später. Durch seinen Lehrer Auguste Forel wurde er zum überzeugten Abstinenzler. Dank ihm begann er auch über das Wesen der Krankheit nachzudenken. In seiner Praxis in Zürich-Aussersihl zeigten sich ihm bald die Unzulänglichkeiten der damaligen Medizin. Dies führte ihn zur Erkenntnis: Nicht Symptome mussten bekämpft werden, es brauchte eine Lebensreform, eine Veränderung der Lebensweise. Bircher experimentierte mit Rohkost und war bald überzeugt, damit die verschiedensten Störungen beheben zu können. Vereinfacht lautete seine Theorie etwa so: Alle Energie kommt von der Sonne. Diese in den Nahrungsmitteln gespeicherte Kraft soll möglichst unverändert in den menschlichen Organismus ­gelangen. Jede Veränderung durch Lagerung, Kochen oder Konservierung reduziert ihren energetischen Wert. Als er seine Theorie der ­Zürcher Ärztegesellschaft vorstellte, erlebte er allerdings eine bittere Enttäuschung. Statt Applaus warf man ihm vor, dass er die «Grenzen der Wissenschaft verlassen» habe.

Der «Rohkostapostel» liess sich dadurch nicht von seinem Weg abbringen. 1904 eröffnete er auf dem Zürichberg ein Sanatorium, das er «Lebendige Kraft» nannte. Die ­Behandlung der Patienten war streng. Er liess seine Gäste um sechs Uhr früh aufstehen, barfuss durch taunasses Gras schreiten, im Garten arbeiten und setzte ihnen als Lohn karge Rohkostmahlzeiten vor. Dies alles hielt die Schönen und Reichen der Belle Epoque nicht davon ab, sich bei ihm in Kur zu begeben. Und er hatte Erfolg. Thomas Manns «störrische» Verdauung besserte sich, und Rainer Maria Rilke empfand die Kur als ein Wendepunkt in seinem Leben.

Nähe zu den Nazis

Auch wenn der unbeirrte Kämpfer mit seiner Ernährungslehre mitunter gehörig über das Ziel hinausschoss, ist die Bedeutung der Rohkost für eine gesunde Ernährung heute unbestritten. Das Problem war eher, dass er alle Probleme der Volksgesundheit mit Rohkost- und Vollgetreideernährung zu lösen glaubte. Er betrachtete es als seine Mission, die zivilisationsgeschädigten Menschen der Städte wieder in Einklang mit der Natur zu bringen.

Auf gefährliches Terrain begab sich Bircher mit der Nähe seiner Ernährungslehre zur nationalsozialistischen Vererbungs- und Rassenideologie. Bircher machte eine falsche Ernährung für geistige und körperliche «Minderwertigkeiten» mitverantwortlich. Mussolini betrachtete er als geeigneten Gesundheitsführer, die «hitlerschen Ärzte» lobte er für ihre «neue» Heilkunde. Bircher wurde zum Opfer seiner eigenen Vereinfachungen und Verabsolutierungen, die ihn gegen berechtigte Einwände immun machten.

Max Bircher-Benner bleibt eine widersprüchliche Person, von den einen als Prophet verehrt, von den andern als Kurpfuscher verdammt. Das ändert nichts daran, dass der Name des originellen Querdenkers für immer und ewig mit dem ­«Bircher»-Müesli und gesunder ­Er­nährung verbunden bleibt.

Quellen:
Melzer, Jörg: Vollwerternährung. Stuttgart 2003.
Bircher, Ralph: Bircher-Benner. Leben und Lebenswerk. Braunwald 2014.

Lesen Sie am 8. März den Bericht zur Eugen-Huber-Strasse.

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