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Reportage

Er missbrauchte sie im Ehebett

Von: Ginger Hebel

10. Oktober 2017

Übergriffe: Tanja Keller* wurde als kleines Mädchen jahrelang von ihrem Adoptivvater missbraucht, und ihre sexuellen Grenzen wurden massiv verletzt. Darüber geredet hat sie nie, bis sie selber Mutter wurde.

Ausgelöscht waren ihre Erinnerungen nie, doch sie hatte sie jahrelang verdrängt. Tanja Keller wurde als Kind von ihrem Adoptivvater missbraucht. Er nutzte ihre Abhängigkeit aus und manipulierte sie. Er machte ihr Geschenke, um ihr Vertrauen immer wieder aufs Neue zu gewinnen und ihr Schweigen beim nächsten Übergriff wieder gewährleisten zu können. Er verging sich an ihr, wenn ihre Mutter ausser Haus war. An die Details erinnert sie sich noch genau. «Ich weiss, dass es mir nicht gefiel und dass es sich nicht richtig anfühlte, was er mit mir machte. Aber ich dachte, es sei normal und gehöre wohl dazu», erzählt die heute 38-Jährige. Denn die Übergriffe passierten oft auch im Ehebett.

Er redete ihr ein, dass sie es doch selber wolle und alles im gegenseitigen Einverständnis geschehe. Sie liess seine extensive Form der Machtausübung über sich ergehen, weil sie in kindlicher Logik dachte, dass sie Liebe nur so erfahren könne. Er habe ihr auch immer wieder gedroht. Denn vor allem beim sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie ist Schweigen das oberste Gebot. Über ihre Tortur redete Tanja Keller jahrelang mit niemandem. «Ich wollte nicht, dass die Familie kaputtgeht, die ich mir doch so sehr wünschte. Auch hatte ich Angst vor den Folgen und auch, dass mir niemand glauben würde.» Die sexuellen Übergriffe hörten erst auf, als Tanja in die Pubertät kam, ihre eigene Sexualität entdeckte und den Mut hatte, sich abzugrenzen.

Oft fehlen die Beweise

Als sie schwanger wurde, kamen alle Erinnerungen hoch, ihr ganzer Schmerz und all die Wut. Sie kämpfte mit einem verzerrten Selbstbild, hatte Schuld- und Schamgefühle. Sie wandte sich an die Zürcher Opferhilfe Casta­gna, welche ihr Kontakte zu Anwälten vermittelte. Doch es dauert meist viele Jahre, bis die Opfer ihr Schweigen brechen, oft fehlen dann Beweise, und die Täter können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. In der Schweiz verjähren schwere sexuelle Straftaten an bis zu 12-jährigen Kindern nicht mehr. Aktuelle Fälle zeigen jedoch, dass die Altersgrenze von 12 Jahren nicht reicht. SVP-Nationalrätin Natalie Rickli hatte schon damals im Parlament 16 Jahre gefordert, was auch dem Schutzalter entspricht. Doch dies sowie der Kompromissvorschlag von 14 Jahren wurden abgelehnt. Sie wird daher in der Wintersession einen neuen Anlauf nehmen.

Seelische Narben

Es fällt Tanja Keller bis heute nicht leicht, anderen Menschen ihre Geschichte zu erzählen. Seit sie selber Mutter ist, ist es ihr jedoch ein Anliegen, dass in der Öffentlichkeit vermehrt über sexuellen Missbrauch gesprochen wird. «Es ist heute noch ein grosses Tabuthema, vor allem, wenn es innerhalb der Familie oder im nahen Umfeld passiert», ist sie überzeugt. Sie möchte dieses Tabu brechen und mit ihrer Geschichte die Gesellschaft sensibilisieren. «Sexueller Missbrauch bei Kindern geht uns alle an. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder vor solchen Übergriffen zu schützen und richtig hinzuschauen.» Sexuelle Ausbeutung in der Kindheit hinterlässt tiefe Narben. Dank Gesprächs- und Traumatherapien geht es Tanja Keller heute besser. Sie ist auf gutem Weg, Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schliessen. Sie ist überzeugt: «Würde man nicht einfach wegschauen, könnten wahrscheinlich viel mehr Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch frühzeitig aufgedeckt oder sogar ganz vermieden werden.»

* Name von der Redaktion geändert.

"Wir fordern höhere Strafen für Vergewaltiger"

Sie setzen sich seit Jahren im Parlament für härtere Strafen für Vergewaltiger und Kinderschänder ein. Ihr grösster Erfolg?

Natalie Rickli: Ich habe mich sehr engagiert für die Pädophileninitiative. Jetzt gilt es zu schauen, dass es im Parlament eine konsequente Umsetzung gibt. SP-Ständerat Daniel Jositsch und ich haben intensiv diskutiert, wie wir einen besseren Kinderschutz erreichen können. Gemeinsam fordern wir eine Anlaufstelle für Pädophile, die noch nicht kriminell geworden sind, um Missbräuche zu verhindern. Gleichzeitig fordern wir höhere Strafen. Ich finde Missbräuche an Kindern das Schlimmste, was es gibt. Die Opfer leiden oft ihr Leben lang.

Wenn der Täter aus dem persönlichen Umfeld stammt, wird es für Betroffene noch schwieriger, darüber zu reden.

Tatsächlich wird Missbrauch oft von nahestehenden Personen verübt. Die Kinder sind in einer Abhängigkeit. Darum ist es wichtig, dass Personen, die viel mit Kindern zu tun haben, sensibilisiert werden und das Thema beispielsweise auch in der Schule behandelt wird.

Oft reichen die Beweise nicht für eine Verurteilung des Täters. Lohnt sich eine Anzeige überhaupt?

Ich finde, ja. Das Strafrecht ist auch zur Sühne da. Damit soll das Unrecht, das einem Opfer widerfahren ist, ein Stück weit wiedergutgemacht werden. Für ein Opfer ist es sicher schlimm, wenn ein Täter nicht verurteilt wird. Trotzdem können wir in unserem Rechtsstaat niemanden verurteilen, wenn keine Beweise vorliegen. Eine Anzeige ist aber auch darum wichtig, weil ein Täter nur so gestoppt und Wiederholungsfälle verhindert werden können.

Sind die Strafen für Sexualstraftäter bei uns hart genug?

Leider nutzen viele Richter die ihnen zur Verfügung stehenden Strafrahmen im Sexualstrafrecht nicht aus. Darum muss das Parlament Mindeststrafen einführen oder sie dort, wo es sie gibt, erhöhen. Ich bin dankbar, dass das Volk die Unverjährbarkeitsinitiative angenommen hat. So haben Kinder später die Möglichkeit, ihre Peiniger anzuzeigen, wenn sie dies wollen. Gerade der Fall Jürg Jegge hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass auch ältere Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, Anzeige zu erstatten.

Kämpfen Sie weiter?

Ich werde in der Wintersession einen neuen Vorstoss einreichen mit dem Ziel, für Sexualstraftäter eine Mindeststrafe von drei Jahren einzuführen. Nur so wird sichergestellt, dass jeder Vergewaltiger ins Gefängnis muss. Heute muss ein Drittel aller Vergewaltiger nicht ins Gefängnis. Das kann nicht sein. 

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