mobile Navigation

Reportage

Aus den Überbleibseln der Möbel wird Fernwärme. Im Bild: Roger Haerdi, Marc Osterwalder, Redaktorin Stine Wetzel, Uzunoglu Engin, Michael Strebel, Matthias Frei, Ernst Mosimann und Lisa Bosco (von links). Bild: Nicolas Zonvi

Frühschicht zwischen Müllbergen

Von: Stine Wetzel

09. Oktober 2018

Ob eine gefüllte Urne mit Asche oder original verpackte Möbel – was die Zürcher wegwerfen, wundert im Hagenholz niemanden mehr. 173 000 Tonnen Haushaltsabfall werden auf dem Recyclinghof im Jahr entsorgt. Für die Serie «Am Puls» zwischen den Müllbergen: Redaktorin Stine Wetzel.

Es scheppert in der Halle, Hämmern, ein Donnern, hinten in der Ecke wird gerade ein Blechwagen zerquetscht. «An den Lärm gewöhnt man sich», sagt Michael Strebel. Er arbeitet seit 15 Jahren im Recyclinghof Hagenholz. Der Gehörschutz zählt eigentlich zur Ausrüstung wie die Arbeitshandschuhe. Doch wenn man mit der Kundschaft zu tun habe, müsste man ihn ständig runternehmen, sagt Strebel.

Unter der Woche fahren im Hagenholz, am Rande Oerlikons, bis zu 500 Personen täglich vor, um ihren Haushaltsabfall loszuwerden. An Samstagen können es schon mal 800 Fahrzeuge werden. Die Spitzenzeit mit 1200 Fahrzeugen pro Tag ist zwischen Weihnachten und Neujahr. «Horror», sagt Strebel und lacht. «Weihnachten im Hagenholz blieb mir nur einmal erspart: vor neun Jahren, als mein Sohn geboren wurde.»

«Am Anfang reut einen alles»

An den Wochentagen macht der Recyclinghof um 7 Uhr auf. «Die meisten kommen zwischen 10.30 und 11 Uhr – wenn sie fertig sind mit Gipfeliessen und Kaffeetrinken und in Ruhe das Auto beladen haben», so Strebel. Die nächste Spitze des Tages: 14.30 bis 15 Uhr. Im Jahr gehen 173 000 Tonnen Haushaltsabfall an den Angestellten vorbei. Hier liegen Stofftierschafe, da Fitnessgeräte übereinander, in einer Mulde liegen Platten (Joe Cocker), DVDs («Traumautos bei Höchstgeschwindigkeit»), selbst bespielte Videokassetten (in Schnörkelschrift mit «Casablanca» beschriftet), irgendwo taucht eine Armbrust auf. «Für uns ist alles normal, irgendwann guckst du das Zeug gar nicht mehr an», sagt Strebel. «Am Anfang reut einen alles. Später wirds einfach Material, das wegmuss.» Selbst Originalverpacktes.

Er finde es spannend, wer mit welchem Abfall komme – und wie. «Aus manchen Transportern fallen die ersten Sachen schon raus, wenn die Tür geöffnet wird. Die sind beladen, als hätte eine Bombe eingeschlagen.» Die Kunden stünden dann eben eine Stunde hier, um den Abfall zu sortieren. Ungeduldig werde hier trotzdem keiner der Mitarbeitenden. «Das nehmen wir mit Humor», so Strebel.

Urne gefunden

Ein älteres Paar lädt Polstermöbel ab. Das Gestell haben die beiden schon vom Eisen gelöst, mustergültig. «Wir sind Profis, wir bringen zwei- bis dreimal im Jahr Sachen ins Hagenholz», sagt der Mann. «Aussortieren ist wichtig, damit es mehr Luft im Haus gibt.» Vorn kippt Ueli Gertsch einen Karton voller Keramikarbeiten in eine Mulde. Er engagiert sich als Fahrer beim Verein Senioren für Senioren. Statt zur Therapie fährt Gertsch heute ins Hagenholz. «Das ist schon ein ausgefallener Wunsch. Ich habe Glück, dass Herr Gertsch das für mich macht», sagt die ältere Frau neben ihm. Linda Rudolf, «geborene ­Accola», muss ihr Atelier räumen, in dem sie jahrzehntelang mit Kindern gemalt und modelliert hat.

Ein Transporter fährt durch die Halle, zum Holzabfall, ohne anzuhalten. «Das haben wir gar nicht gern», sagt Uzunoglu Engin, seit 19 Jahren im Hagenholz. Eigentlich muss die Kundschaft kontrolliert werden, wenn sie in den Recyclinghof kommt: Die Mitarbeiter prüfen, ob der Wagen über die Waage reingefahren ist und welche Ware gebracht wird. «Wenn alles sofort da abgelegt wird, wo es hingehört, sparen wir uns Arbeit», sagt Engin. «Aber es kommt schon vor, dass Leute Abfallsäcke bringen, sie als brennbaren Kehricht deklarieren, und dann ist doch alles drin, Keramik, Glas.» Dann muss einer in die Pressmulde steigen und sortieren. Dabei hat Michael Strebel, jener Mitarbeiter, der den Trubel nach Weihnachten nur ein einziges Mal verpasst hat, einmal in einem Karton eine Urne gefunden, samt Asche und Namen des Verstorbenen. Nach juristischen Abklärungen wurde die Urne im Gemeinschaftsgrab in der Waid beigesetzt. Er habe das letzte Geleit gegeben, sagt Strebel.

Munition im Abfallsack

Vor der Pressmulde kniet heute Matthias Frei, mit einer Schaufel in der Hand. Alles, was nicht von der Presse erwischt wird, holt er raus: Papierzettel, Kleinteiliges, Moder. Frei arbeitet seit vier Jahren im Hagenholz. «Mich hat hier vor allem überrascht, wie fahrlässig vereinzelte Kunden Waffen entsorgen.» Manchmal fänden sie sogar Munition in den Kehrichtsäcken.

«Ich beobachte hier so einige lustige Phänomene», sagt Lisa Bosco. «Zum Beispiel, dass die Leute vor dem Sommer ihre Liegestühle, vor dem Winter ihre Ski wegwerfen.» Bosco hat im Hagenholz ihre Lehre abgeschlossen und ist eine der wenigen gelernten Recyclisten hier. Die meisten sind Quereinsteiger, kommen vom KV, von Sicherheitsfirmen. Marc Osterwalder zum Beispiel: Der Lagerist ist seit einem halben Jahr im Hagenholz. «Aber auch hier fahre ich viel mit dem Gabelstapler.» Er leert die Mulden – Keramik, Glas, Elektroschrott – in die jeweiligen grossen Container.

Um 17 Uhr schliesst das Hagenholz. Zusammen mit den üblichen Hauskehricht­säcken wird der Haushaltsabfall verbrannt. Daraus wird Fernwärme, die in das Netz ­Zürich-Nord eingespeist wird. Das Kehrichtheizkraftwerk produziert so viel Wärme, wie 170 000 Wohnungen verbrauchen. Dazu kommt Strom für den Bedarf von 50 000 Wohnungen. Erst im September haben die Zürcher für eine neue Fernwärmeleitung gestimmt, eine Verbindung vom Hagenholz bis zur Josefstrasse, wenn das Werk Josefstrasse 2022 wegfällt. Dann sollen auch die Kunden dieses Gebiets mit Fernwärme aus den Abfallbergen im Hagenholz versorgt werden, etwa der Hauptbahnhof und die Europaallee.

zurück zu Reportage

Artikel bewerten

Gefällt mir 2 ·  
5.0 von 5

Leserkommentare

Keine Kommentare