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Reportage

Ob Salznüsschen oder Rasierklingen – Tony* liess so ziemlich alles mitgehen. Symbolbild: PD

Gerichtsfall: Gestohlen, um die Leere zu füllen

Von: Isabella Seemann

04. Februar 2014

Tony F.* ist dreiundzwanzig, von hinten sieht er aus wie vierzehn in seinen Saggy Jeans, die den Blick auf Boxershorts mit Comicfiguren freigeben, von vorne sieht er aus wie ein alter Mann. Sein kleines Gesicht mit den harten Zügen ist verschlossen wie ein Kellerverlies, das ein finsteres Geheimnis birgt. Ob er Freude empfinden kann, Liebe oder andere positive Gefühle, ist nicht zu erkennen.

Die Richterin, die Staatsanwältin und die Verteidigerin haben vor der Verhandlung lange miteinander gesprochen, die Richterin weiss Bescheid über Tonys Zeit, die bei den meisten Menschen Kindheit heisst. Kindheit und ein Zuhause, die fallen ja in der Regel zusammen. Tony kann damit nicht aufwarten, nur mit zerrütteten Familienverhältnissen, aus denen man den damals Fünfjährigen befreite. «Sie sind in einer Pflege­familie gross geworden?», fragt die Richterin. «Auch», sagt Tony. «Haben Sie noch Kontakt?» – «Nein.» Es hört sich nach verkümmerter Kinderseele an, nach Einsamkeit und vielen dunklen Stunden. Heimaufenthalt, die erste Pflegefamilie zusammen mit der Schwester. «Sie ist dort geblieben, nehme ich an», sagt Tony, er weiss es nicht genau. Es hat sich keiner mehr um den andern gekümmert. Primarschule, Oberstufe, Abbruch. Mit fünfzehn – er ist jetzt bei den nächsten Pflegeeltern – trinkt er regelmässig. Er steigert sich bis zu einer Flasche Schnaps am Tag. «Warum?», fragt die Richterin mit einfühlsamer Stimme. «Ich kam mir überflüssig vor wie das fünfte Rad am Wagen.» Mit achtzehn ist er auf sich allein gestellt. «Irgendwie habe ich den Tag verbracht», sagt er. Leere Zeit, leeres Leben. Er lernte einen jungen Mann kennen, zusammen nahmen sie Drogen, tranken, schliefen bis in den Nachmittag hinein, schauten fern, später gingen sie auf Diebestour. Jetzt hat er einen älteren Freund. «Der ist vielleicht auch nicht der Richtige», sagt Tony.

Zu den Diebstählen kann er nur sagen, dass es stimme. Vier Packungen Rasierklingen, eine Flasche Wod­ka, eine Tüte Salznüsschen, Zigaretten und ein Benzinfeuerzeug hat er in einem Nachtkiosk gestohlen. «Ich wusste nicht, was ich machen sollte, es war mein Geburtstag, da gehts mir nie besonders gut.» Er hatte bereits eine Flasche Wodka geleert und wollte dann im Laden noch eine holen. Als man ihn ein siebtes Mal bei einem Diebstahl erwischte, hatte er ein einhändig bedienbares Balisong, ein sogenanntes Sprung-Klappmesser – im Volksmund auch Schmetterlingsmesser genannt – bei sich, dessen Erwerb und Besitz in der Schweiz verboten ist. Weshalb er wegen Diebstahls unter Mitführung einer gefährlichen Waffe und wegen Widerhandlung gegen das Waffengesetz angeklagt ist. Auf dem Foto, das die Richterin hoch hält, ist ein 20 Zentimeter langes Messer mit glatt geschliffener neun Zentimeter langer Klinge zu sehen. Benutzt hat er das Messer nicht beim Diebstahl, auch bestreitet er, es für einen allfälligen Einsatz mitgenommen zu haben. «Ich war obdachlos», sagt Tony, «ich trug immer mein ganzes Hab und Gut auf mir. Das Messer hab ich am Ufer der Limmat gefunden. Weder weiss ich, wie man es benutzt, noch dass man dafür eine Zulassung braucht.»

Eine Bewährungsstrafe läuft noch, und eigentlich gibt es da kein Pardon. Es ist nicht erforderlich, dass die Waffe tatsächlich benutzt beziehungsweise eingesetzt wurde zum Zweck des Raubes. Zudem ist er einschlägig vorbestraft, ausserdem stehen Fahren ohne Führerschein und Besitz von Betäubungsmitteln im Vorstrafenregister. «Wie ist es mit Therapie?», fragt die Richterin. Tony will, stationär, das ist abgemacht. Auf eigenen Füssen schafft mans nicht. «Wenn ich sie durchstehe, kann ich den Schulabschluss und vielleicht noch eine Lehre machen. Am liebsten wäre ich schon gestern da.» Es sei nun fertig mit dem «Seichmachen». Wegen des Alkohols habe er sicher sechs, sieben Jahre seines ­Lebens verloren.

«Betreutes Wohnen reicht nicht»

Die junge Verteidigerin setzt zu ihrem Plädoyer an. «Als ich ihn kennen lernte», berichtet sie, «war er absolut am Nullpunkt. Es war klar: entweder Gefängnis, oder er muss etwas für sich tun. Betreutes Wohnen reicht nicht, er braucht die ambulante Therapie. Er hat sich lange geweigert, aber dann ist die Einsicht ­gekommen. Den Job in einem Pflegeheim hat er durchgehalten. Er ist zuverlässig und noch nie betrunken zur Arbeit erschienen. Das Tätigsein macht ihm Freude. Er sucht Struktur und ein freundliches Gegenüber, ihm fehlt das Gefühl, etwas wert zu sein. Woher soll es auch kommen?»

Diese junge Frau ist Tonys Glück. Klar, distanziert, freundlich, ohne falschen Eifer überzeugt sie die weibliche Gerichtsbarkeit davon, dass es sich lohnen könnte, diesen jungen Mann nicht senkrecht in die Tiefe zu schiessen. Die Richterin gibt Tony ein letztes Mal Bewährung und ordnet eine ambulante therapeutische Massnahme zur Behandlung seiner Alkoholsucht an. «Kein Mensch ist eine Insel», sagt sie. Tonys Problem sei nicht der Schnaps, sondern die Menschenleere in seinem Leben. Wenn man es recht bedenkt, ist Tonys Leben inzwischen gar nicht mehr menschenleer – Betreuer, Sozialarbeiterin, Bewährungshelfer. Er muss vielleicht nur noch begreifen, dass das seine Chance ist.

* Namen geändert

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