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Reportage

Die Frauengruppe Dezibelles vor dem Haus zum Oberen Spiegel am Napfplatz. Bild: H. Wehrli

Gesang in idyllischer Umgebung

Von: Urs Hardegger

31. Mai 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Napfplatz.

Mit angewinkelten Armen steht die weibliche Brunnenfigur wie ein Feldherr auf der Säule des Napfbrunnens und wacht über den Platz. Unbestritten ist sie die Herrscherin dieses Gevierts. Doch für einmal steht nicht sie im Mittelpunkt. Denn an diesem lauen Maiabend macht sich das Vokalensemble Dezibelles vor dem Haus zum Oberen Spiegel für einen Auftritt bereit. Punkt halb sieben Uhr legen Rebekka Bräm, Andrea Fischer, Mélanie Lacroix und Anna Liechti los. Mit der Ouvertüre aus Mozarts «Zauberflöte» eröffnen sie den diesjährigen Hofgesang. Nach wenigen Takten haben sie das zahlreiche Publikum und die vereinzelt von den Balkonen und Fenstern herunterblickenden Anwohner bereits für sich eingenommen. Eindrücklich unterstreichen sie, warum sie kürzlich in Berlin und Hamburg auch das deutsche Publikum zu begeistern vermochten. Ihr Repertoire reicht von Klassik über Pop- bis zur Volksmusik.

Mag sein, dass die Unbekannte mit den drei Trollen zu ihren Füssen den vier Sängerinnen den Erfolg missgönnt, denn sie dreht ihnen demonstrativ den Rücken zu. Sie hätte keinen Grund, sich wegen eines um ein paar Dezibel erhöhten Lärmwerts aus der Ruhe bringen zu lassen. Seit über achtzig Jahren richtet sich ihr Blick auf den sieben­hundertjährigen Brunnenturm, der das obere Ende des Platzes begrenzt.

Auch Keller lernte hier

Es war lange vor ihrer Zeit, als darin lombardische Geldausleiher und Händler ihren Geschäften nach­gingen. Auch die von der Hülfs­gesellschaft 1820 eingerichtete ­Armenschule mit ihrem Lehrer Meisterhans erlebte sie noch nicht. Dieser war eigens nach Freiburg gefahren, um sich beim Franziskaner Girard in eine Lehrmethode einführen zu lassen, mit der man 190 Schüler in einem engen Raum unterrichten konnte. Peer-Tutoring würde man die Methode heute in Neudeutsch nennen. Immerhin verhinderten die Schulbedingungen nicht, dass es Gottfried Keller, einer der Schüler, zu Weltruhm brachte.

Auch als Johann Wolfgang von ­Goethe dem Platz und Johann Caspar Lavater (1741–1801) einen Besuch abstattete, stand die stolze Unbekannte noch nicht an ihrem Platz. Er sei «der beste, weiseste, grösste und innigste aller sterblichen und unsterblichen Menschen», schwärmte Goethe über seinen Zürcher Freund, der das «Waldries» an der Längsseite bewohnte. Goethe hatte an Lavaters Physiognomik, der Lehre, dass man Charakter, Denkweise und Gemüt eines Menschen über dessen Schattenriss bestimmen könne, Gefallen gefunden. Die Freundschaft der beiden Geistesgrössen bröckelte allerdings, da Goethe sich zusehends an Lavaters Wunderglauben und seiner Bekehrungssucht störte.

Mehr als ein Abstellplatz

Mit Chorgesang die Hinterhöfe beleben. Diese Idee steckt hinter dem Hofgesang, der am Napfplatz und an vielen anderen Orten in diesen Wochen die Plätze und Höfe erklingen lässt. Schade, wenn diese wichtigen Lebensräume und Begegnungsorte lediglich als Werk- oder Abstellplätze gebraucht werden. Mit Gesang will der Initiator Andreas Diethelm auf diese Problematik hinweisen und gleichzeitig Anwohner zu gemeinsamen Projekten animieren. Über siebzig Chöre beteiligen sich dieses Jahr an diesen stimmigen Anlässen.

Inzwischen sind die Dezibelles weitergezogen, Normalität ist eingekehrt. So idyllisch der mittelalterliche Napfplatz und sein ruhig vor sich hin plätschernder Brunnen auch sein mag, genau genommen existiert er gar nicht. Er ist in keinem Verzeichnis von Zürichs Strassen und Plätzen aufgeführt. Der Name hat sich trotzdem eingebürgert. Solch amtliche Formalitäten können die Dame auf der Säule offensichtlich nicht beeindrucken. Ungerührt fängt sie die letzten Strahlen der Abendsonne ein.

Quellen:
Pfenninger, Hans Felix: Die Freundschaft zwischen Goethe und Lavater.
In: Schweizer Monatshefte 45, Heft 9.
Der wechselseitige Unterricht in der Armenschule.
In: NZZ vom 22. 9. 1944.

Lesen Sie am 15. Juni 2016 den Beitrag zum Goldbrunnenplatz.

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