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Reportage

Die Zürcher Boheme vergnügte sich 1938 im Café Select und im Studiokino Nord-Süd. Bild: Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Geschminkte Meitli, eine "billige Ware"

Von: Ginger Hebel

01. September 2015

Zeitreise: Wie vergnügten sich Frauen in Zürich zu einer Zeit, wo die Freizeit erkämpft werden musste? Auf Stadtrundgängen erlebt man das alte Züri.

Früher war alles besser, denken viele, doch ist das wahr? Wie vergnügten sich Frauen vor 50 Jahren in Zürich, zu einer Zeit, wo das klassische Rollenbild die Schweiz dominierte, Frauen sich daheim um Familie und Haushalt kümmern mussten und Freizeit keine Selbstverständlichkeit war? "Verheiratete Frauen gingen nicht zur Arbeit, zumindest nicht nach klassisch-bürgerlichem Rollenideal. Komplett realitätsfern ging man also davon aus, dass Frauen entsprechend auch keine Freizeit nötig hätten. Sie musste teilweise gestohlen und erkämpft werden",  sagt Zaida Haener vom Verein Frauenstadtrundgang Zürich. Sie nimmt uns mit auf eine kleine Reise in die Vergangenheit, als Hausfrauen in der EPA einkauften und die Schaufenster der Warenhäuser Globus und Jelmoli geheime Sehnsüchte weckten.

Nicht laut lachen

Wir spazieren zur Kruggasse, dem ehemaligen Zentrum der Zürcher Halbstarkenszene. 1960 titelte der «Blick»: «Das Halbstarken-Nest von Zürich». Im Schwarzen Ring wurden Exzesse gefeiert, die den Anwohnern die Schamröte ins Gesicht trieben. In einer Zeit, wo Benimmbücher ein Comeback feierten und die Etikette verlangte, dass man anständig gekleidet und frisiert das Haus verlässt, weder laut redet noch laut lacht, tanzte man im Ring zu Rock ’n’ Roll. Die Männer trugen Lederjacken und schwere Halsketten, die Frauen roten Lippenstift, obwohl Make-up als «Kunstdünger» bezeichnet und geschminkte Meitli als «billige Ware» abgestempelt wurden. Sie lümmelten in der Gasse herum in ihren hautengen Jeans, die – heute salonfähig geworden – früher als obszön galten. Die siebzigjährige Annelies, die am Rundgang teilnimmt, hat einen Flashback. Sie erinnert sich, wie sie damals auf dem Bett lag und den Bauch einzog, um den Knopf der Jeans überhaupt zuzukriegen, worauf sie sich zwar eingeengt, aber dennoch befreit fühlte von den gesellschaftlichen Zwängen. Heute ist die Kruggasse ruhig, Touristen halten die Zürcher Oberdorf-Idylle mit ihrer Kamera fest.

Der Rundgang geht weiter zur Pizzeria Molino beim Hechtplatz, wo sich früher das Café Select befand, der Treffpunkt der Künstler und Intellektuellen und das Stammlokal von Giuditta Tommasi, eine der ersten offen lebenden lesbischen Frauen in Zürich. Neben dem heutigen Molino eröffnete Anna Indermaur 1935 das Kino Nord-Süd, das erste Studiokino der Schweiz. Damals schossen Kinos wie Pilze aus dem Boden, in der Dunkelheit der Kinosäle suchte man Schutz, um ­ungestört zu schmusen.

Wir erreichen die Frauenbadi, wo Frauen ungestört sünnelen. Früher hatte man sie vor dem Schwimmen gewarnt – man glaubte, dass es Muskeln fördere, die bei der Geburt Widerstand leisteten. Als das allgemeine Bedürfnis nach Luft und Licht grösser wurde, wurden immer mehr Seebadis eröffnet. 1974 gab es in Zürich die amtliche Oben-ohne-Erlaubnis, woraufhin in den Medien vom Sittenzerfall die Rede war. Heute, im modernen Zeitalter, tragen die Frauen in den Badis mehr Stoff als damals. Der Spaziergang endet beim Bürkl­iplatz, wo schon früher getanzt wurde, um aus den engen Strukturen auszubrechen. Noch heute tanzt man hier im Pavillon jeden Donnerstag im Sommer Lindy-Hop, und fühlt sich frei und lebendig.

Der Verein Frauenstadtrundgang Zürich organisiert jeden zweiten Samstag Rundgänge in die Geschlechtergeschichte Zürichs. www.frauenstadtrundgangzuerich.ch

 

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