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Reportage

Junkies setzen sich einen Schuss: Ende der 90er-Jahre kein ungewöhnliches Bild an der Langstrasse. Bild: Keystone

"Hier rauchten sie Crack"

Von: Clarissa Rohrbach

20. Mai 2014

Krimiautor Michael Herzig arbeitete 16 Jahre lang als Drogenbeauftragter bei der Stadt. Nun hört er auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Er erinnert sich an die brenzligen Ecken an der Langstrasse.

Der Gestank hat sich in sein Gedächtnis hineingefressen. Es roch nach Blut und Exkrementen in den Häusern, in denen die Drogensüchtigen wohnten. Michael Herzig sitzt auf einer Bank in der Bäckeranlage und erinnert sich. Es war 1998, er hatte gerade die Stelle als Drogenbeauftragter beim Sozialamt angetreten. Seine Aufgabe war anspruchsvoll: Zwar hatte die Polizei den Platzspitz und das Lettenareal erfolgreich geräumt,  Tausende von auswärtigen Junkies hatten die Stadt bereits verlassen, doch die Szene verlagerte sich an die Langstrasse. Fixer lagen da in den Hauseingängen, Zürichs Drogenproblem war noch lange nicht behoben.

«Hier rauchten sie Crack, dort gingen Männer nachts auf den Schwulenstrich», sagt Herzig und zeigt zuerst auf den Rasen des Parks, dann auf die Reihe von Bänken. Eine Traube von 80 Leuten stand jeweils dort, wo die Hohlstrasse breiter wird. Wo heute Kinder ihre Skatetricks üben, verkauften Dealer den Süchtigen ihren Stoff. Attraktiv war der Treffpunkt wegen der Knelle Schönau, wo ganztags Bier getrunken wurde und heute das Tapas del Mar steht. Das Haus wurde zur Beruhigung der Situation von der städtischen Stiftung PWG gekauft und neu gebaut. Unangenehm war die Szene vor allem für die Schüler an der Kernstrasse. Sie mussten teilweise von SIP-Mitarbeitern (Sicherheit Intervention Prävention) in die Schule begleitet werden, die ihnen auch erklärten, wer die Gestalten sind, welche Gefahr  Spritzen bergen und wieso man sie nicht anfassen soll.

«Mit der SIP entstand eine Brücke zur Polizei und zur Bevölkerung, wir arbeiteten so auf der Gasse besser», erklärt Herzig. Genau dies sei Zürichs Erfolgsrezept gewesen: Aufklärung der Bewohner und Integration der Drogensüchtigen neben der Repression gegen die Dealer. Herzig kümmerte sich damals um die Koordination von Polizei und Sozialarbeitern, die «Bösen» und die «Birkenstock-Softies», zwei Schläge von Menschen, die nicht unbedingt zusammenpassen und bisher selbstständig gehandelt hatten. Zusammen schafften sie es, das Problem in den Griff zu bekommen.
Laut Herzig waren die Fixerräume, die betreuten Wohnungen und die Drogenabgabestellen dafür entscheidend. «Die grösste Sorge für die Betroffenen eines Suchtmittel­problems ist, woher der Stoff kommen soll. Wenn dieser legal und hygienisch abgegeben wird, gibt es keine Marginalisierung, man kann die Abwärtsspirale von Kriminalität, Schulden und Krankheiten stoppen.» Er zitiert eine repräsentative Befragung in den Anlaufstellen der Stadt von 2008, bei der von 800 befragten Süchtigen 90 Prozent nicht obdachlos waren und 30 Prozent arbeiteten. «Drogensüchtige sind heute dank sozialer Institutionen  besser integriert. Das kommt kaum in einer anderen Stadt vor. Zürichs Strategie ist einzigartig.»

Wir gehen die Langstrasse entlang bis zur Kreuzung Dienerstrasse. Hier, auf dem kleinen Platz vor dem Longstreet, sei die Veränderung des Quartiers wohl am besten nachzuvollziehen. Heute feiert hier das Partyvolk, früher war dies der Hotspot des Kokainhandels. Der sei in dominikanischer Hand gewesen: Prostituierte versteckten den Stoff in ihrer Unterwäsche, junge Männer verteilten ihn dann. Nur die Lambada-Bar erinnere an das Milieu von früher, meint Herzig.

Er steht nun bei der Kreuzung Sihlhallenstrasse bei der Bushaltestelle. Noch heute treffen sich hier Grüppchen von Süchtigen, weil sich weiter hinten eine Methadonabgabestelle befindet. Doch Herzig weiss, dass hier höchstens Medikamente gedealt werden. Beliebt seien vor allem Benzodiazepine, wie sie im Valium enthalten sind, kombiniert mit Alkohol.

Als wir die Militärstrasse durchqueren, erklärt Herzig die strategische Wichtigkeit von Verkehrsknotenpunkten. «Die meisten transportierten Drogen mit dem ÖV, das ist am unauffälligsten.» Deswegen habe die Stadt sich im Rahmen von Langstrasse Plus überlegt, die Haltestelle Langstrasse/Militärstrasse aufzuheben. Um den Dealer an die Kreuzung zu bestellen,  benutzten die Junkies die Telefonkabine, die immer noch vor dem Club Gonzo steht. «Das war wohl die Kabine mit dem grössten Umsatz der Stadt, als es noch keine Handys gab.» Herzig kennt viele Anekdoten: Wieso die Mars- Bar das Lokal mit der besten Lüftung der Stadt sei, fragt er. Weil dort, eine ehemalige Anlaufstelle, Heroin geraucht wurde.

In den Häusern auf der anderen Seite der Neufrankengasse wohnen heute noch Junkies. Wohnungen seien oft eine Einnahmequelle für Drogensüchtige: Sie vermieten die Räume an einen Dealer und wohnen so  kostenfrei. Wir begeben uns in die dunkle Unterführung: Hier zeugen die Resten einer Schranke und einer Videokamera, wie es zu- und herging. «Am Morgen war der Tunnel übersät mit blutigen Taschentüchern, die Leute nahmen extra den Bus, um nicht hier durch zu müssen.» Mit der Schranke stoppte die Polizei während der offenen Szene Menschen, um sie zu kontrollieren.

Auch in den Höfen im Kreis 5 war  die Polizei aktiv. Diese waren bei Dealern beliebt, weil sie oft mehrere Ausgänge besitzen. So konnten sie unbemerkt vor den Polizisten flüchten. Herzig erinnert sich an einen Junkie, der jeden Abend in seinem Innenhof schlief. Obschon es ihm zu proper geworden ist, wohnt er immer noch da und meint, etwas lakonisch: «Heute kann man sich kaum vorstellen, wie das damals war.» Herzigs Arbeit ist getan.

Weitere Zürcher Drogenschauplätze kommen in Michael Herzigs neuem ­Thriller «Frauen hassen» vor (Grafit-­Verlag, 28.90 Franken).

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