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Reportage

Warum hat der Kaktus Dornen? "Warum muht die Kuh?", fragt Urs Eggli schalkhaft zurück. Bilder: Nicolas Y. Aebi

Hier wohnen charmante Spiesser

Von: Isabella Seemann

21. Juli 2015

Sukkulenten-Sammlung: Wer weder Zeit noch Geld für eine Reise an einen exotischen Flecken Erde hat, besucht die Gewächshäuser am Mythenquai.

Stolz steht der grüne Riese da, würdevoll wie ein Wächter, die Arme gen Himmel gereckt, als winke er. «Kommt herein!» Daheimgebliebene, die das Fernweh plagt, werden in der Sukkulenten-Sammlung von ihrem Frust erlöst. Ein einziger Saguaro-Kaktus vermag bereits dieses unverwechselbare Wildwest-Gefühl zu verbreiten. Gleich daneben wächst der dornige, hockerförmige Echinocactus grusonii, im Volksmund etwas boshaft «Schwiegermuttersitz» genannt. Knapp 6000 verschiedene Arten sukkulenter Pflanzen aus mehr als 70 Pflanzenfamilien, darunter allerlei dornige Preziosen, sind in den sieben Schauhäusern, den Beetkästen und im Steingarten zu sehen. Damit ist die Sukkulenten-Sammlung am Mythenquai eine der artenreichsten und bedeutendsten weltweit. Die monströseste Pflanze, der säulenförmige Felsenkaktus, Cereus peruvianus monstruosus, stösst mit seinen fast 10 Meter Höhe ans Dach des Gewächshauses; in der Natur können Säulenkakteen sogar doppelt so hoch werden. Der niedlichste Kaktus, Blossfeldia liliputana, ist gerade mal so gross wie eine 20-Rappen-Münze. Was Sukkulenten in ihrer enormen Vielfalt eint, ist ihre Fähigkeit, Saft (lat. «succus») zu speichern. Sogar sukkulente Orchideen gibt es. Dazu gehört die Vanille-Orchidee, die wegen der aromatischen Schotenfrüchte vor allem in Madagaskar angebaut wird.

Zürcher mit goldenem Kaktus
Spricht man Urs Eggli auf das Wunder der Wasser speichernden Pflanzen an, nennt er es bescheiden «die Anpassungsfähigkeit an ihre speziellen Lebensräume». Der 56-jährige Botaniker wirkt seit bald 30 Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die «Sukki», und benutzt noch immer am liebsten den Begriff «faszinierend»: «Als Naturwissenschaftler fasziniert es mich, dass Pflanzen im Laufe der Evolution unabhängig voneinander in so unterschiedlichen Weltgegenden wie den Alpen, amerikanischen oder afrikanischen Trockengebieten parallel ähnliche Fähigkeiten zur Wasserspeicherung entwickelten, um sich während meteorologischer Durststrecken behaupten zu können.»

Diese Faszination den Menschen näherzubringen, ist ihm ein «Herzensanliegen». Die 1931 gegründete und zu Grün Stadt Zürich gehörende Sukkulenten-Sammlung vermittelt einerseits das ganze Jahr hindurch «Ferien-Feeling», ist andererseits aber auch Anlaufstelle für Forscher aus aller Welt und soll den Besuchern zudem Wissen vermitteln – und Begeisterung für diese wunderlichen Pflanzen entfachen. Soeben durfte Urs Eggli im Fürstentum Monaco für seine Verdienste die renommierte Auszeichnung «Cactus d’Or» von der Internationalen Organisation für Sukkulentenforschung entgegennehmen.

«Autsch!» Die brisanteste Frage kann jedoch selbst der preisgekrönte Wissenschaftler nicht abschliessend beantworten: Warum hat der Kaktus Dornen? «Warum muht die Kuh?», fragt Urs Eggli schalkhaft zurück. «Die Naturwissenschaft hat dazu Hypothesen entwickelt, die zwar stichhaltig sind, sich aber nicht endgültig beweisen lassen.» Dornen erhöhen die Chance zu überleben und schützen davor, gefressen zu werden, da Sukkulenten Wasser speichern und somit als Flüssigkeitsquelle für Tiere allzu attraktiv sind.

Doch die Dornen können auch weitere Funktionen erfüllen. «Eulychnia, eine Kaktusart aus Chile, kann mithilfe der Dornen Wasser aus dem Nebel an der Küstenwüste kondensieren.» Einige Hochlandkakteen aus den südamerikanischen Anden schützen sich wiederum mit extrem dichten Dornen, die fast wie Haare wirken, vor den starken UV-Strahlen der Sonne in über 3000 Meter Höhe.

Zurzeit steht in einer Sonderausstellung die Frage «Alles Kaktus?» im Fokus. Denn längst nicht alles, was wie ein Kaktus aussieht, ist auch einer. Kakteen machen mit ihren 1890 Arten sogar nur einen geringen Teil der rund 15 100 bekannten Sukkulenten aus. Mit etwas Geduld kann man sich mit der enormen Vielfalt vertraut machen und die schwierige Unterscheidung zwischen «verwandt» und «ähnlich» verstehen. Und womöglich fällt es einem Besucher plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass das kleine grüne, stachelige Ding auf seinem Fenstersims kein Kaktus ist, sondern nur irreführend ähnlich aussieht. Kakteen sind, abgesehen von einer Ausnahme, ausschliesslich auf dem amerikanischen Kontinent beheimatet.

In Afrika gibt es ausser dem Binsenkaktus von Natur aus keine Kakteen, auch wenn manche Pflanzen so aussehen. Weltweit verbreitet sind die Wolfsmilchgewächse. Ein Unterscheidungsmerkmal laut Urs Eggli: Bei Wolfsmilchgewächsen fliesst bei der geringsten Verletzung Milchsaft aus. Bei den Kakteen nicht. Aber obacht, Wolfsmilch ist giftig! Wir lernen also: Nicht alles, was Dornen hat, ist ein Kaktus, und nicht jeder Kaktus hat Dornen; nicht jede Sukkulente ist ein Kaktus, aber jeder Kaktus ist eine Sukkulente. Mühelos kann man einen ganzen Tag in diesem lebenden Museum verbringen, ohne sich nur einen Augenblick zu langweilen.

Die Königin der Nacht
So richtig schön bunt treiben es die Sukkulenten in den Monaten April bis Juli. Dann blühen besonders viele Pflanzen. Unangefochtener Star ist die Königin der Nacht (Selenicereus grandiflorus). Fast das ganze Jahr fristet Ihre Majestät ein eher unscheinbares Dasein, bis sie eines Abends ihre volle Schönheit entfaltet: Kurz nach Sonnenuntergang öffnen sich ihre kelchförmigen, cremefarbenen Blüten, die einen betörenden Vanillegeruch verströmen, für eine einzige Nacht. Ab drei Uhr morgens schliessen sie sich wieder, und bei Sonnenaufgang ist die ganze Pracht vorbei. Für diese extravagante Pflanze bietet die Sukkulenten-Sammlung jeweils eine Extraöffnungszeit an, denn Hunderte Besucher wollen sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen.

Überhaupt sind Sukkulenten quasi von den Spiessern zu den Hipstern unter den Pflanzen geworden. Designer schwärmen von der skulpturalen Ästhetik der Kakteen und richten Lofts damit ein. Nicht ganz unwichtig für die Popularität des Kaktus ist die Tatsache, dass seine Bedürfnislosigkeit ihn zum idealen Mitbewohner für Leute macht, die viel unterwegs sind. Leise vor sich hin wachsend, ist der Kaktus Ruhepol für den urbanen Menschen. Und sollte es dennoch Probleme mit dem Zusammenleben geben, so bietet die Sukkulenten-Sammlung kostenlos Hilfe während der wöchentlichen Pflanzenberatung.

Die Sukkulenten-Sammlung ist täglich geöffnet (inkl. Sonn- und Feiertage) von 9 bis 16.30 Uhr.

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