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Reportage

Fatima Aschbacher und Milos Micanovic von «sip züri» ermuntern einen Obdachlosen, eine Notschlafstelle aufzusuchen. Bild: Isabella Seemann

Hilfe in frostigen Zeiten

Von: Isabella Seemann

18. Dezember 2018

KÄLTEPATROUILLE Sobald die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken, sucht die «sip züri»-Kältepatrouille Nacht für Nacht die Schlafplätze der Obdachlosen auf. Nicht jeder lässt sich helfen, aber Fatima Aschbacher (40) und Milos Micanovic (33) sind trotzdem für sie da.

Giuseppe ist ziemlich angeheitert, nicht nur vom 6er-Pack Tell-Bier, das er zwischen seinem Hab und Gut im Eingang zum Coop am Stauffacher lagert. Dort suchte der Obdachlose Schutz vor Sturm Marilou und begrüsst nun überschwänglich Fatima Aschbacher und Milos Micanovic, die beide eine dunkelblaue Jacke mit der Aufschrift «sip züri» tragen. Die Abkürzung steht für «Sicherheit Intervention Prävention», eine Abteilung des Sozialdepartements, die aufsuchende Sozialarbeit mit ordnungsdienstlichen Aufgaben kombiniert. «Come stai?», fragt Fatima den Tessiner. «Hast du heute schon gegessen? Hast du einen Ort zum Schlafen?» Giuseppe erzählt vom Schlafplatz, den er sich vor einem Modegeschäft eingerichtet hat, und holt gut gelaunt Mickymaushefte hervor, die er dort lesen will. Wie nett er es aber findet, dass das «sip züri»-Team nach ihm schaut, wiederholt er mehr als zweimal.

Wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt fällt, sind täglich bis spätnachts Kältepatrouillen unterwegs und bieten Obdachlosen Hilfe an und ermuntern sie, eine Notschlafstelle aufzusuchen. Fatima und Milos können Giuseppe überzeugen, im Pfuusbus von Pfarrer Sieber eine warme Mahlzeit einzunehmen und dort zu übernachten, und fahren ihn mit dem «sip züri»-Transporter ins Albisgüetli hoch. Während Giuseppe einen Teller Spaghetti Pomodoro isst, stecken sie ihm zum Abschied eine Broschüre mit Adressen zu, wohin er sich wenden kann, wenn er Unterstützung braucht bei der Suche nach einem dauerhaften Zuhause. Ob er das Angebot annehmen wird? «Vielleicht», sagt Fatima. Vertrauen aufbauen heisst das Zauberwort. Und wenn sie einem 15-mal angeboten hat, wieder ein Dach über dem Kopf anzustreben, wird sie es auch ein 16. Mal probieren.

«Ich will ein Zimmer»

Oft genug wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt. So wie bei jener Frau, die nach Jahren auf der Strasse eines Tages sagte: «Ich will ein Zimmer.» Kurz darauf lernte sie einen Mann kennen und gründete eine Familie. «Zum Glück waren wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort», sagt Fatima. «Man kann in diesem Job sehr viel bewirken», ergänzt Milos. Das motiviert sie, selbst bei klirrender Kälte die ganze Nacht unterwegs zu sein.

Bevor sie wieder in den Transportwagen steigen, konsultieren sie nochmals die «Kälteliste». Darauf sind rund ein Dutzend Schlafstellen in der Stadt Zürich aufgezeichnet, wo Obdachlose auch im Winter draussen nächtigen. Im Sihlhölzli, vor Sportanlagen, in Garagen. Die Orte ändern ständig. Das gehört zur Überlebensstrategie. Beim GZ Wollishofen suchen sie ein Klientenpaar auf, weil die Frau gesundheitliche Probleme hat. Milos klopft an die Tür der öffentlichen Toilette, wo das Paar sich öfter aufhält, doch niemand öffnet. Da sieht das «sip züri»-Team einen Mann am Boden hocken neben einem Einkaufswagen voller Säcke. Fatima fragt freundlich, ob er nicht in die Notschlafstelle möchte. Der Mann antwortet unwirsch, man möge ihn in Ruhe lassen. Dieser Wunsch wird respektiert. Zumal er gut ausgerüstet ist für die kalten Nächte draussen. «Während wir mit dem Klienten reden, checken wir seine körperliche Verfassung ab, ob er warm gekleidet ist und über Isoliermatte und Schlafsack verfügt.» Ist dies der Fall, lassen sie ihn, kommen später nochmals vorbei und bieten erneut Hilfe an.

Es ist nicht so, dass Menschen in Zürich unfreiwillig draussen schlafen müssten. Es gibt genügend Notschlafplätze. Doch muss man diese Angebote nutzen wollen und können, in der Lage sein, sich an Regeln zu halten, mit anderen Leuten klarzukommen. Wer das nicht kann oder will und lieber draussen schläft, ist bei eisigen Temperaturen aber besonders gefährdet. Besteht Selbst- oder Fremdgefährdung, bietet das «sip züri»-Team den Arzt auf.

Der Hinweis eines Spaziergängers führt die Kältepatrouille in die Allmend, wo sie zwischen Gebüschen gut getarnt einen Bretterverschlag entdecken. Milos leuchtet mit der Taschenlampe ins Dunkel. Ob man eintreten dürfe. Keine Antwort. Er hebt die Plane. Niemand zu Hause. Später werden sie nochmals dorthin fahren und dem Bewohner erklären, dass es keine gute Idee war, den Schlafplatz in einem Naturschutzgebiet einzurichten. «Aber jene, die nicht stören, lassen wir.»

Je näher es auf Weihnachten zugeht, desto weniger Klienten treffen sie an ihren Schlafplätzen an. Die Leute suchen Unterschlupf, nicht der Kälte wegen, sondern weil sie sich nach der Nähe und Gemeinschaft anderer Menschen sehnen, wissen Fatima und Milos aus Erfahrung. Dass der zweifache Familienvater Milos auch an Heiligabend wieder auf Kältepatrouille sein wird – selber feiert er im Januar nach orthodoxem Kalender – ist eine andere (Weihnachts-)Geschichte.

 

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