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Reportage

Zwei Teenager setzen im Zentrum Juch ein Puzzle zusammen: 70 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit im Asylzentrum. Bilder: JS

Insel der Hoffnung in Altstetten

Von: Jan Strobel

08. September 2015

Im Asylzentrum Juch warten derzeit rund 350 Migranten auf den Ausgang ihres Verfahrens. Wir besuchten den Ort, der für viele Flüchtlinge den Beginn eines neuen Lebens verspricht.

Moktar blickt hinüber zur Autobahn hinter dem Zaun, dorthin, wo sich der Feierabendverkehr langsam zu bilden beginnt. Er sieht Menschen hinter dem Steuer, konzentriert, hungrig, etwas abgekämpft vielleicht. Sie sind unterwegs zu ihren Familien, zu ihrem Haus mit Garten auf dem Mutschellen, zu ihrer Reihenhaussiedlung in Schwerzenbach. Wieder ist für sie ein Tag im Büro vorbei, und Moktar dreht sich vom Zaun weg, lässt sich von der Zürcher Sonne wärmen. Es war ein guter Tag heute, «je suis content», sagt er, ich bin zufrieden. Es ist diese Sonne, die früher in seiner Heimat, in Burkina Faso, sein Dorf beschien, wenn nicht gerade Regenzeit war. Es ist aber auch die Sonne, die ihn quälte auf dem Flüchtlingsboot, in das er sich pferchen liess für die Fahrt übers Mittelmeer.

Seit zwei Wochen lebt Moktar jetzt im Asylzentrum Juch in Altstetten, dem er, wie alle anderen der zurzeit rund 350 Mitbewohner, nach dem Zufallsprinzip zugewiesen wurde. Und wie all die anderen wartet er auf den Ausgang seines Asylverfahrens. «Die Schweiz ist ein wunderbares Land, ihr kennt sie noch, die Menschenrechte», lacht er und gesellt sich zu den beiden jungen Eritreern, die gerade den Boden vor ihrer Holzbaracke fegen. Früher wohnten hier Asylsuchende und portugiesische Gastarbeiter. Dann wurde das heutige Zentrum eingerichtet. Seit Januar 2014 sind im Juch Personen untergebracht, die im Testbetrieb des Staatssekretariats für Migration (SEM) das beschleunigte Asylverfahren durchlaufen (siehe unten).

Shuttlebusse bringen die Bewohner zum Verfahrenszentrum in der nahen Förrlibuckstrasse oder zu gemeinnützigen Arbeitseinsätzen für Grün Stadt Zürich oder Entsorgung & Recycling. Die Asylbewerber reinigen Kandelaber, pflegen die Friedhöfe. Oder sie helfen beim Kochen der über 300 Menüs, die täglich im Zentrum ausgegeben werden. Und fürs letzte Sechseläuten bündelten sie das Holz für den Scheiterhaufen. Bis maximal 30 Franken springen bei einem solchen Arbeitseinsatz heraus. Der Alltag im Juch ist strukturiert, manchmal nehmen Bewohner mehrere Termine pro Tag wahr. «Es ist wichtig, dass die Leute etwas Sinnvolles machen können», sagt Thomas Kunz, der Direktor der Zürcher Fach­organisation AOZ, welche das Zentrum Juch führt.

Wie es die Regeln vorschreiben
Gerade ist wieder ein Shuttlebus aus der Förrlibuckstrasse eingetroffen. Ihm entsteigt eine Gruppe junger Männer. Eritreer, Afghanen, Syrer. Manche haben sich fein gemacht, ihre besten Kleider angezogen, das Haar akkurat nach hinten gekämmt, um so einem neuen Leben entgegenzutreten. Jetzt melden sie sich mit ihren Ausweisen beim Empfang wieder an, einer nach dem anderen, wie es die Regeln vorschreiben, keiner schert aus, das System funktioniert, auch wenn das Haupttor weit ­offen steht. Die Hausordnung haben die Bewohner verinnerlicht. Zum Beispiel diese Paragrafen: Ruhezeiten von 12 bis 13 Uhr und von 22 bis 7 Uhr. Das Areal ist stets sauber zu halten. Für die Reinigung sind alle Bewohner gemäss Putzplan verantwortlich. Hausabfall, PET-Flaschen, Glas und Aludosen sind zu trennen und in den dafür vorgesehenen Behältern zu entsorgen. Das Rauchen ist nur in Raucherzonen gestattet. Der Besitz sowie der Konsum von Alkohol und Drogen sind verboten. Ferner ist die schweizerische Rechtsordnung zu beachten. Das Ziel ist eine grösstmögliche, selbstständige Lebensführung.

Putzpläne, Abfalltrennung, Raucherzonen – es ist ein System der Überschaubarkeit, der Kooperation und der Eigenverantwortung. Das eine Gemeinschaft formt und gleichzeitig eine erste Ahnung davon gibt, wie der fremde Alltag da draussen, jenseits des Zauns, im besten Fall funktionieren könnte. Die sauberen Schweizer, glaubt zumindest Moktar, brauchten diese Regeln, welche die Bewohner im Juch hier so gewissenhaft einhalten, um ihren Traum nicht zu verraten, längst nicht mehr.

Vor einer Wohnbaracke finden sich jetzt ein paar Jugendliche zum Basketball zusammen. Viele von ihnen haben sich allein nach Europa durchgeschlagen. Im Zentrum Juch wohnen derzeit 70 unbegleitete Minderjährige. Dazu kommen 190 alleinstehende Männer und 36 alleinstehende Frauen, die in separaten, von den Männern getrennten Wohnbereichen leben. Eine junge Frau aus Syrien lehnt sich aus dem Fenster und beobachtet die Jugendlichen bei ihrem Spiel, hinter ihr schaut ihre kleine Tochter einen Zeichentrickfilm. Der Vater hat es noch nicht nach Europa geschafft. Vor der Schulbaracke nebenan sitzen ein paar Männer im Schatten und rauchen. «Diese Schule ist einer der Mittelpunkte im Zentrum Juch», sagt Thomas Kunz von der AOZ. «Hier bieten wir den Bewohnern Deutschunterricht an, auf freiwilliger Basis, jeweils zwei Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Nachmittag.» Gerade ist eine Deutschstunde zu Ende gegangen. An der ­Tafel steht die Konjugation des Verbs «sprechen», an der gegenüberliegenden Wand hängt die Karte des Kantons Zürich. Zürichsee, Greifensee, Pfäffikersee, die Blüemlisalp. Doch gegen Aleppo, Kabul und Asmara in den Herzen und den Köpfen kommen diese abstrakten Namen, die niemand aussprechen kann, natürlich nicht an.

Abends verwandelt sich die Schule schliesslich in ein Kino mit eigenem Programm. Selbst Yoga-Kurse werden hier ab und zu angeboten. Im benachbarten Raum ist schliesslich das Internetcafé untergebracht, ein Kernstück des Zentrums, der Draht zu Verwandten oder Freunden, die irgendwo gestrandet oder zurückgeblieben sind, eine Möglichkeit, die auseinandergerissenen Puzzleteile des Lebens wieder ein wenig ineinanderzufügen. Die beiden Buben draussen im Hof machen es vor. Sie widmen sich konzentriert einem Puzzlespiel. Sein Titel: «Auf dem Bauernhof».

Das beschleunigte, faire Testverfahren, welches das SEM seit Anfang Januar 2014 an der Förrlibuckstrasse testet, beginnt mit einer Vorbereitungsphase von höchstens 21 Tagen, in der Abklärungen getroffen werden und die Erstbefragung stattfindet (Aufnahme der Personaldaten, Abklärung des Reisewegs, Kurzbefragung zu den Fluchtgründen, allfälligwe Gewährung des rechtlichen Gehörs zur möglichen Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staates). Tritt das SEM auf die Prüfung ein, folgt ein beschleunigtes Asylverfahren. Es dauert 8 bis 10 Arbeitstage und endet mit einem Asylentscheid oder mit einer Versetzung in das erweiterte Verfahren zu weiteren Abklärungen.  Die maximale Aufenthaltsdauer im Zürcher Testbetrieb beträgt 140 Tage. Ab April 2014 sind die Asylgesuche besonders von Eritreern in der Schweiz angestiegen. Insgesamt ersuchten 2014 beinahe 7000 eritreische Staatsbürger in der Schweiz um Asyl. Im Zentrum Juch machen die Eritreer zirka 40 Prozent der Bewohner aus. Bis Juli 2015 ist vor allem die Zahl der minderjährigen Asylsuchenden in der Schweiz gestiegen: 984 unbegleitete Minderjährige erreichten bis zu diesem Zeitpunkt  in  diesem Jahr die Schweiz, auch sie mehrheitlich aus Eritrea. Insgesamt verzeichnete die Schweiz von April bis Ende Juni  2015 7’384 Asylgesuche, 2000 mehr als in der Vergleichsperiode 2014. Bei den Herkunftsländern rangiert Eritrea an erster Stelle, gefolgt von Somalia, Sri Lanka, Syrien, dem Kosovo, Afghanistan und Nigeria. Im Vergleich zu Gesamteuropa fällt die Zunahme gemäss SEM in der Schweiz bisher moderat aus.

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