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Reportage

Für Zürcher Jugendliche ist das Shopville zur beliebten Ausgehmeile geworden. (Bild: Clarissa Rohrbach)

Katz-und-Maus-Spiel im Untergrund

Von: Clarissa Rohrbach

02. März 2021

Der Lockdown und der Stillstand im Zürcher Nachtleben setzen Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders zu. Um der Langeweile zu entfliehen und ihr soziales Netz nicht zu verlieren, weichen sie auf den öffentlichen Raum aus. Ein Augenschein im Shopville unter dem Hauptbahnhof Zürich. 

19 Uhr 37. Der Zug nach Chur fährt in zwei Minuten ab. Die Passagiere rennen zum Gleis 7, mit Rollkoffern und Skis. Doch nicht alle, die sich an diesem Freitagabend in der Halle des Hauptbahnhofs aufhalten, reisen ab. Einige sind gekommen, um für diese Nacht zu bleiben.

Schaut man genau hin, offenbart sich der Hauptbahnhof als sozialer Mikrokosmos. Eine Gruppe von 16-Jährigen steht neben dem Kiosk. Sie tragen Trainerhosen und Kapuzenpullis und schauen herum, als ob sie etwas vorhätten. In gebrochenem Deutsch sagt einer etwas, die anderen lachen und klopfen ihm auf die Schulter. Zwei etwas ältere Mädchen mit bauchfreiem Pulli laufen vorbei, in der Hand Kaffeebecher und eine Flasche Havana Club Rum. Sie bleiben vor der gespiegelten Fassade des Kiosks stehen, retuschieren ihren Lippenstift und machen ein Selfie. «Was luegeder?», sagt die eine zu den sichtlich aufgeregten Jungs. Sie stupst einen von ihnen und rennt kreischend davon. «Alti, ich bruuch e Zigi!», sagt sie zu ihrer Freundin und umarmt sie. Dann ziehen sie wieder von dannen, mit der Rolltreppe hinunter ins Shopville.

«Abhängen» im HB

Hier, im Untergrund, entpuppt sich der Hauptbahnhof als wahrer Treffpunkt für Jugendliche. «Im HB abzuhängen ist zurzeit gerade mega beliebt unter den Jungen», sagt der 19-jährige Kevin aus Bassersdorf. Er würde sonst am Freitagabend ins Fussballtraining, aber jetzt habe er wegen des Lockdowns nichts zu tun. «Wir langweilen uns.» Das Einzige, was den Jungen bliebe, sei, sich an öffentlichen Orten zu treffen. Hier gebe es etwas zu sehen, man «chille» einfach und schaue die Frauen an. Kevin und seine Freunde bleiben bis nach Mitternacht. «Wenn der Bahnhof schliesst, schmeissen sie uns raus.» Ab und zu kämen Polizisten vorbei, die nach dem Ausweis fragen. Doch solange man die Fünferregel für Versammlungen einhalte und eine Maske trage, sei alles okay.

Junge Leute leiden besonders unter den Corona-Einschränkungen. Für diese sind soziale Kontakte extrem wichtig. Wie Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl gegenüber «Tele Top» sagte, müssten diese stärker in die Entscheidungen eingebunden werden, sonst entstünden Aggressionen.
Dies zeigte sich Anfang Februar, als Jugendliche beim Bahnhof Stadelhofen eine Gruppe Homosexueller angriff. Die Gegend rund um den Sechseläutenplatz ist auch ein Hotspot unter Minderjährigen. Morgens liegen Berge von Abfall auf dem Utoquai, die Reste einer improvisierten Partynacht. Nach den gewalttätigen Vorfällen hat die Polizei ihre Präsenz vor Ort erhöht. Und die SVP fordert mehr Videoüberwachung. Doch laut Guggenbühl helfe es nur, wenn die Politik den Jugendlichen wieder mehr Freiheiten gebe. Seit Montag dürfen unter 20-Jährige wieder Sport treiben und in die Jugendtreffs, das dürfte die Situation allenfalls etwas entschärfen.

Am Hauptbahnhof dagegen bleibt es laut Kantonspolizei meist ruhig. Die Gruppe von Jungs steht jetzt vor dem Coop to go bei den Gleisen 43 / 44. Einige lehnen lässig mit dem Rücken an die Billettautomaten, Red Bull und Smartphone in der Hand. Zwei Polizisten mit Westen, Schlagstock und Funk im Ohr reden lange und ernst auf sie ein. Die Gruppe löst sich auf, paarweise ziehen die Jugendlichen durch das Shopville, nur um sich drei Minuten später wieder an einer anderen Stelle zu versammeln. Es scheint ein Katz-und-Maus-Spiel zu sein. Ja nicht zu lange an einem Ort verweilen, damit die Polizei nicht kommt. Dafür ist der Hauptbahnhof gross genug.

Alkohol ist gefragt

An diesem Abend scheinen mehr Polizisten als üblich durch den HB zu patrouillieren. «Wir passen die Zahl der Einsatzkräfte gemäss Lagebeurteilung jeweils an», sagt Kapo-Sprecher Marc Besson. Die meisten Jugendlichen würden Verständnis für die Corona-Schutzmassnahmen zeigen. Zu Gewaltdelikten sei es seit Neujahr nicht mehr gekommen. Die Polizei fordert die Grüppchen immer wieder auf, sich zu bewegen, so entstünden weniger Reibungspunkte.

Viele der Jugendlichen kommen extra nach Zürich, um etwas zu erleben. So auch Miel (16) und Shakur (16) aus Dübendorf. Die beiden Mädchen würden sich auch am Stadelhofen treffen. «Aber hier im Shopville ist es wärmer», sagen sie und schlürfen an ihrem Erdbeer-Milk­shake. Ab und zu ziehen sie ihre Sonnenbrillen an, um cool auszusehen. Wenn sie auf Tiktok oder Instagram sehen, dass ihre Freunde sich irgendwo treffen, gehen sie auch dorthin.

Plötzlich ertönen Hip-Hop-Beats. Der Anführer einer Gruppe von Mützenträgern trägt einen Lautsprecher in einer Hand, in der anderen eine Flasche Wodka. «Wir verkaufen mehr Alkohol an junge Erwachsene als vor dem Lockdown», sagt ein Mitarbeiter von Drinks of the World. Vor allem nach 21 Uhr, wenn die anderen Läden schliessen, sei Alkohol gefragt. Am beliebtesten seien Wodka, Rum und Whisky. Auch beim Coop to go habe der Konsum abends zugenommen, sagt eine Verkäuferin.

Petra (20) und Dalya (19) aus Zürich-Seebach sitzen in der Zwischenetage vor den Toiletten. «Wir sind alle paar Tage hier, sonst ist es ja himmeltraurig», sagen sie. Zuhause würden sie es kaum noch aushalten.

21.37 Uhr. Die Reisenden sind weg. Der HB ist nun ganz in den Händen der Jungen. Eine Truppe von zwölf Polizisten samt Schäferhund marschiert bestimmt Richtung Rolltreppe. Sie beäugen die Jugendlichen, die vor dem Wurststand stehen, diese gaffen zurück. Das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter.

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