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Reportage

Am Treffpunkt des viertgrössten Bahnhofs Europas schlägt das Herz höher. Bild: CLA

Knotenpunkt der Schicksale

Von: Clarissa Rohrbach

15. Oktober 2013

Der Hauptbahnhof ist nicht nur europaweit in den Top Five. Sondern auch ein Hotspot für aufregende Begegnungen. Am HB-Treffpunkt schlägt das Herz höher.

Der Sekundenzeiger dreht auf dem leuchtenden, milchigen Zifferblatt. Es ist halb acht, Samstagabend. Einige Verspätete rennen Richtung Gleise, andere Passagiere tragen ihren Koffer in der Hand und ihre Ferienerinnerungen im Herzen. Doch beim Treffpunkt des Hauptbahnhofs rückt die Zugreise in den Hintergrund: Hier geht es um Menschen und deren Geschichten. Denn diese vier Quadratmeter dürften in der ganzen Schweiz der beliebteste Ort sein, an dem Personen wieder aufeinandertreffen, bevor sie sich erzählen, was in ihrem Leben alles passiert ist.

Etwa vier Dutzend Frauen und Männer stehen bei der Uhr und warten. Sie schauen in alle Richtungen, aber eigentlich ins Leere. Die Minuten des Wartens verwandeln sich in ein zeitliches Vakuum, in dem man den Tag hinter sich lässt und sich fragt, was der Abend wohl bringen wird. Ohne etwas zu tun, sind die Wartenden auf sich gestellt. Einigen ist das ganz recht, anderen peinlich. Ein paar Männer lehnen cool an den Pfeilern der Uhr, sie starren geradeaus mit den Händen in den Hosentaschen. Daneben stehen ungeduldige Jugendliche, die von einem Fuss auf den anderen wechseln. Viele vertiefen sich in die Musik, die aus den Kopfhörern dringt.

So auch Daniela. Sie nimmt die Stöpsel aus den Ohren und erklärt: «Ich warte auf meine beste Freundin. Sie war eben drei Wochen auf Hochzeitsreise.» Die 26-Jährige kann es kaum erwarten, von den romantischen Erlebnissen zu hören. Sie wartet heute schon das zweite Mal am HB auf jemanden. «Da fast all meine Freunde aus der Ostschweiz kommen, verabrede ich mich immer am Treffpunkt.» Heute Abend stehe sie bereits seit 20 Minuten da, aber das mache nichts, sie liebe es, die Leute zu beobachten. Endlich kommt Danielas Freundin: Die beiden fallen sich in die Arme und geben Jauchzer von sich.

Auch sonst werden am Treffpunkt jede Menge Herzlichkeiten ausgetauscht. Ein blondes Girlie schleicht sich von hinten an einen jungen Mann heran, hält ihm die Augen zu und sagt: «Überraschung!» Er dreht sich um und strahlt. Mit einem Kuss besiegelt er sein «Hoi Schatz.» Daneben gibt eine elegante Dame einem ebenso eleganten Teenager drei Luftküss­chen. Beide tragen Einkaufssäcke mit sich. Ob es die Mutter oder die Gotte ist, die das Mädchen nach dem Shoppen trifft?

Wir wollen wieder mehr wissen und wagen uns an einen jungen Mann mit Lederjacke. Christian aus Zürich (29) wartet auf eine Kollegin. Aber er erinnert sich noch an damals, als er seine Dates hier traf. «Der Treffpunkt war immer mit vielen Erwartungen verbunden, es war der Anfang eines Abends, der scheitern oder auch alles verändern hätte können.» Heute hat er eine Freundin und sieht den HB nur noch als naheliegenden Ort, um sich zu verabreden.

Auch aus praktischen Gründen wählen Marco, Peter, Manuel und Matthias (40) seit Jahren den HB aus, um sich zu treffen. Die vier Schulkollegen stehen in grauen Wintermänteln unter der Uhr, bereit zum Aufbruch in die City. Sie sind zusammen in Baar aufgewachsen und sehen sich jeden Monat, um die Freundschaft zu pflegen. «Ich bin zwar der Einzige, der in Zürich lebt, aber um fein Abend zu essen, ist hier die Auswahl grösser», sagt Peter. Für die vier Männer steht der Treffpunkt für eine Tradition, bei der sie die Vergangenheit wieder aufleben lassen.

Etwas abseits sitzt Julia (20) mit Jeans und Kapuzenpulli auf einer Bank. Die Fehraltorferin wartet auf ihre grosse Schwester, die bereits in die Stadt gezogen ist. Sie sei immer ein bisschen aufgeregt, wenn sie im Hauptbahnhof aussteige. «Ich freue mich schon die ganze Woche, hierherzukommen.»

Auf den anderen Bänken haben sich Grüppchen von Jugendlichen gebildet. Unter der Uhr auch. Es ist halb zehn. Die meisten, die hier abgemacht haben, sind jetzt bereits in der Stadt unterwegs. Die Menge hat sich aufgelöst, es bleiben noch die Unentschlossenen. Sie rauchen Zigaretten und trinken Alkopops, wissen nicht, wohin, oder verbringen sogar den ganzen Abend im Hauptbahnhof. Ein Reinigungsmann in Orange fährt mit seinem Vehikel an den Jugendlichen vorbei. Er leert Abfalleimer und putzt den Boden. Damit werden auch die letzten Emotionen am Treffpunkt weggefegt. Doch morgen verkehren wieder 400 000 Menschen am HB (siehe Box). Einige davon werden sich wieder am Treffpunkt in die Arme fallen.

Der Hauptbahnhof platzt aus allen Nähten

Mit seinen 26 Gleisen belegt der Zürcher HB Platz 13 der grössten Bahnhöfe der Welt. Zählt man die Anzahl Passagiere, liegt der Bahnhof auf Platz 23 weltweit. Im europäischen Vergleich sind nur die Bahnhöfe Paris Gare du Nord, Roma Termini und der Hamburger Hauptbanhof mehr frequentiert. 400 000 Personen verkehren täglich im Zürcher HB, davon sind 350 000 Zugpassagiere. Pro Tag fahren 3000 Züge ein und aus, das heisst, rund jede Minute kommt eine Bahn an. «Der Zürcher HB platzt aus allen Nähten», sagt SBB-Sprecher Daniele Pallecchi. Da ein zweiter Bahnhof wie in anderen europäischen Städten in Zürich keinen Platz hat, soll die Kapazität mit der Durchmesserlinie erweitert werden. Von der Doppelspur, welche die Bahnhöfe Altstetten, HB und Oerlikon verbindet, profitieren die S-Bahnen bereits 2014, ab 2015 dann auch der Fernverkehr. Der Ausbau ermöglicht mehr Routen, die am Knotenpunkt Zürich vorbeiführen, schnellere Verbindungen und einen stabilen Fahrplan in der ganzen Schweiz.  «Mit dieser Entlastung wird die Kapazität des Hauptbahnhofs während Jahrzehnten gewährleistet», erklärt Palecchi. In Zukunft werden noch mehr Passagiere und Passanten im HB verkehren, genaue Zahlen sind laut den SBB jedoch nicht vorhersehbar.

 

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