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Reportage

Beim Segeln auf dem Zürichsee festigte sich das Band zwischen Lars und seinem Grossvater Edi. Bild: iStock

Licht am Horizont

Von: Sacha Beuth

30. März 2021

Im Christentum ist die zentrale Botschaft von Ostern der Tod und die Auferstehung von Jesus. Eine besondere Art der Auferstehung, die sich rational nicht erklären lässt, erlebte auch Lars. Der Zürcher verlor einen geliebten Menschen durch eine Krankheit – und wurde wenig später von diesem aus einer lebensbedrohenden Situation gerettet. - Eine Ostergeschichte von Sacha Beuth

Unternehmungen mit seinem Grossvater Edi waren für Lars von jeher das Grösste. Angefangen bei gemeinsamen Spaziergängen im Wald, bei einer Velotour bis zu Ausflügen in den Zoo. Niemand konnte so gut Pfeilbogen herstellen, Feuer machen, Spuren lesen wie ein Indianer, Löcher in Pneus flicken und exotische Tiere erkennen wie Opa. Und dazu noch passende und lustige Anekdoten erzählen. Auch als Lars zum Teenager und Twen heranreifte, verbrachten er und Edi viel Zeit miteinander.

Lieblingsbeschäftigung der beiden war ohne Zweifel das Segeln auf dem Zürichsee. Edi hatte sich kurz nach seiner Pensionierung eine schmucke Jacht, einen etwa 10 Meter langen Langkieler, gekauft und sich ordentlich reingekniet, um den dafür nötigen Segelausweis zu ergattern. Und er hatte – was am wichtigsten war und einem kleinen Wunder gleichkam – nach überraschend kurzer Wartezeit einen Schiffsstandplatz im Hafen Wollishofen erhalten.

Anfangs reichte es Lars, wenn er als Leichtmatrose seinem Grossvater zur Hand gehen – und gelegentlich das Steuer übernehmen durfte. Dann aber erwachte auch in ihm die Leidenschaft für den Segelsport, so dass er ebenfalls die Prüfung für den Bootsführerschein der Kategorie D absolvierte.

Die Stunden, Tage und manchmal auch Nächte auf dem See schweissten die beiden noch mehr zusammen. Lars erzählte von seinen Wünschen und Träumen. Von den Sorgen in der Schule, wenn er mal wieder eine Matheprüfung verhauen hatte. Von seiner ersten Freundin, die ihn dann wegen eines älteren Typen abservierte. Von der ersten Beule mit seinem ersten Auto. Und von den Streitereien seiner Eltern, die schliesslich in Trennung und Scheidung mündeten. Der Grossvater hatte dabei immer ein offenes Ohr und gelegentlich – zumindest wenn es sich um kleinere Nöte handelte – sogar einen Ratschlag zur Lösung eines Problems. Edi selbst erzählte weniger. Er hielt sich bewusst zurück. Noch immer plagte ihn das schlechte Gewissen, sich zu wenig um seinen Sohn Thomas, Lars’ Vater, gekümmert zu haben. Dies wollte er jetzt bei Lars wieder gutmachen. Und so erzählte er nur ganz selten einmal, was ihn bewegte. Etwa von seinem Wunsch, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren und einmal mit einem Schiff den Atlantik zu überqueren. Andere Gedanken wie den immer noch weilenden Schmerz wegen des Verlustes seiner geliebten Frau, die vor fünf Jahren durch einen Hirnschlag plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen worden war, verschwieg er. Zudem ging es auch nicht darum, sich ständig vollzuquatschen. Wertvoller für Lars und Edi waren die Momente, in denen sie gar nichts sagten, sondern auf den leisen Wellen schaukelnd einfach nur die Idylle auf dem See genossen und mit einem Bier in der Hand das Glitzern der Sonne im Wasser, den Flug der Möwen oder nachts die Lichter der Stadt betrachteten. Diese Momente der gemeinsamen Ruhe und Entspanntheit, im Bewusstsein, einen Menschen um sich zu haben, der einen verstand und mit einem fühlte. Lars sah dann oft seinen Grossvater verstohlen an und erfreute sich an dem zufriedenen Lächeln, das um Edis Mund spielte.

Dabei hatten sie sich allerdings eine Marotte angewöhnt. Wenn sie gefangen von der Aussicht nebeneinander sassen oder standen, versuchte immer einer, den anderen mit einem Ellbogenschlag in die Rippen zu überraschen – eine Albernheit, auf die wohl nur Männer kommen können. Das geschah natürlich nie böswillig, war aber doch meist schmerzhaft. Auf jeden Fall führte es aus der Gedankenversunkenheit und zurück zu konzentrierten Handlungen.

Schockierende Diagnose

Die Jahre vergingen. So genau erinnert sich Lars zwar nicht mehr, aber es muss wohl an einem warmen Augustabend gewesen sein, als Edi beim Weg unter Deck unversehens vor Schmerz zusammenzuckte und sich an den Oberbauch griff. «Was hast du?», fragte der Enkel besorgt. «Ah nichts. Mir wird wohl noch der Hamburger auf dem Magen liegen, den ich heute Mittag gegessen habe», winkte Edi ab. Doch Lars blieb hartnäckig. Schon seit einigen Wochen war ihm aufgefallen, dass Edi öfter an Appetitlosigkeit litt, immer dünner wurde, bei den Segeltätigkeiten ungewohnte körperliche Schwächen zeigte und sich dauernd überall kratzte. Ausserdem hatte seine Haut einen deutlichen Gelbstich bekommen. «Der Hamburger ist das nicht. Seit ein paar Tagen verziehst du immer wieder plötzlich das Gesicht. Dir gehts nicht gut. Du solltest einen Arzt aufsuchen.» «Ach was. Da ist alles in Ordnung. Ich bin immer noch gut in Form. Welcher 72-Jährige» – und dabei näherte sich Edi Lars mit einem schalkhaften Lächeln – «hat zum Beispiel noch so viel Kraft für DAS?» – worauf sein Ellbogen in Lars’ Seite fuhr. «Au» schimpfte Lars und musste doch über den Trick seines Grossvaters lachen. Trotzdem blieb er beunruhigt.

Mit Grund, wie sich bald zeigen sollte. Da keine Besserung von Edis Zustand erfolgte und der Enkel immer weiter auf ihn eindrang, sich untersuchen zu lassen, gab Edi schliesslich nach. Die Diagnose, die auf den Check im Triemlispital folgte, war niederschmetternd: Leberkrebs im letzten Stadium. Keine Chance auf Heilung.

Geschockt sassen Grossvater und Enkel hernach auf einer Bank vor dem Spital. Beiden war, als hätte man ihnen den Boden unter den Füssen weggezogen. Edi kaute lustlos auf einem Keks herum und blickte in die Ferne, während sich Lars’ Augen mit Tränen füllten. Und wieder war es Edi, der nach einer gefühlten Ewigkeit, die aber wohl doch nur zehn Minuten dauerte, das Schweigen abrupt mit einem Stoss in die Seite seines Enkels beendete. Bloss, dass Lars dieses Mal gar nicht reagierte. «Komm schon. Jeder muss mal sterben. Und ich hatte wenigstens ein erfülltes Leben.» Edi versuchte fest und aufmunternd zu klingen, doch Lars hörte das Zittern in seiner Stimme heraus. «Statt Trübsal zu blasen, ist es besser, die Zeit, die mir noch bleibt, zu geniessen. Am besten beginnend mit einem feinen Frühstück auf unserem Boot.» Lars nickte nur schwach. Wie in Trance stand er auf, folgte Edi zum Auto und gemeinsam fuhren sie zum See.

Während der folgenden Tage waren beide bemüht, auf andere Gedanken zu kommen. Zusammen surften sie im Internet und suchten nach Angeboten für eine Transsib-Reise oder eine Atlantikquerung und schmiedeten entsprechende Pläne. Dies liess sie zwar zwischendurch das schwere Schicksal vergessen und setzte bei Edi eine gewisse Energie frei, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nun rapide immer mehr abbaute. Schliesslich mussten sich beide eingestehen, dass sich Edis Träume nicht mehr realisieren liessen. Und drei Wochen nach der Diagnose war es dann so weit. Lars musste seinen Grossvater hospitalisieren.

Das Versprechen

Jeden Tag besuchte Lars Edi im Triemli. Manchmal unterhielten sie sich über Alltägliches, das Parkplatzregime des Stadtrats oder die Baisse des FCZ. Und manchmal schwelgten sie in Erinnerungen an die Erlebnisse auf dem Segelboot. Dabei richtete sich Edi einmal mühsam in seinem Bett auf, ergriff den Arm seines Enkels und sagte: «Ich spüre, dass es mit mir bald zu Ende geht. Darum versprich mir, dass du das Segeln nie aufgibst. Du behältst das Boot und es soll auch ohne mich der Ort bleiben, an dem du dich immer zurückziehen und die Seele baumeln lassen kannst.» Der Kloss im Hals, den Lars dabei spürte, nahm ihm fast den Atem. Dennoch sah er seinen Grossvater an und nickte tapfer. «Da wir gerade vom Boot sprechen», fuhr Edi fort und versuchte, die klamme Stimmung aufzulockern: «Das könnte mal wieder gereinigt und auf Vordermann gebracht werden. Ich möchte, dass du das morgen erledigst. So, und jetzt hau ab und mach dich wieder nützlich». «Mach ich», antwortete Lars, versuchte ein Lächeln, das aber missriet, und stand auf, um sich zu verabschieden. «Ich hab dich lieb Grossvater.» Es war ein Satz, den er schon eine Weile nicht mehr gesagt hatte. «Ich dich auch, Lars», sagte Edi mit einer Stimme, in der all seine Zuneigung für den Enkel mitschwang.

Am nächsten Tag war Edi tot. Lars erfuhr es von der Stationsschwester, als er seinem Grossvater wie üblich einen morgendlichen Besuch abstatten wollte. Das Gehörte drang erst gar nicht zu ihm durch. Lars stand eine Weile nur stumm und abwesend da. Dann machte er auf den Schuhspitzen kehrt, verliess das Krankenhaus und stieg in sein Auto. In ihm kreiste nur ein Gedanke: «Ich muss noch das Boot in Ordnung bringen. Ich muss es in Ordnung bringen. Ich habe es Opa doch versprochen». Hatte er zuvor nur eine Leere verspürt, so schossen ihm nun die Tränen in die Augen. Ein heftiger Regenschauer prasselte aus dem dunkelgrauen Himmel hernieder, als er schluchzend den Motor startete. Auf dem Weg zum Hafen Wollishofen fielen ihm all die schönen Dinge wieder ein, die Edi und er zusammen erlebt hatten. Und auch die Dinge, die sie zusätzlich hätten erleben können, hätte damals Lars nicht mal einer Flamme oder seinen Freunden gegenüber Edi den Vorrang gegeben. Damals hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, sich auch nicht gekümmert, ob Edi vielleicht enttäuscht war, obwohl er das nie gezeigt hatte. Heute bereute Lars seine Entscheidungen und wünschte, er hätte sich für seinen Grossvater entschieden.

Gedankenversunken und mit völlig verheultem Gesicht bog er ins Mythenquai ein, als er plötzlich einen schmerzhaften Hieb in der Seite fühlte. Ganz so, wie es Edi immer getan hat. Erschrocken riss er die Augen auf, bemerkte, dass er auf die Gegenfahrbahn geraten war und beinahe in einen Lastwagen gedonnert wäre, der gerade aus einer Einfahrt bog. Der Schlenker nach rechts erfolgte im letzten Moment.

Das Gesicht in den Wellen

Als Lars wenig später den Parkplatz bei der Hafenanlage erreichte, steckte ihm der Schreck immer noch in den Knochen. Mit wackligen Beinen stakste er zum Steg, bestieg das Boot und starrte auf das Wasser. Die schweren Wolken hatten sich gelichtet und am Horizont drängte sich das helle Licht der Morgensonne durch das Dunkel am Himmel. War das alles nur Einbildung oder war sein Grossvater gerade für einen kurzen Augenblick aus dem Reich der Toten auferstanden und hatte ihm das Leben gerettet? Lars blickte auf ein paar Wellen und Schaumkronen, die sich mit den Reflektionen von Sonne und Wolken paarten und – einen kurzen Moment nur – Edis Gesicht mit dem für ihn typisch schalkhaften Lächeln zeigten.

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