mobile Navigation

Reportage

Das Café Odeon ist der sichere Fels in der Brandung der Zürcher Gastroszene. Im Bild: Stephanie Portmann, Redaktor Jan Strobel und Jesus Costoya (von links).Bild: Nicolas Y. AebiComic: Beni Merk

Mythos auf dem Silbertablett

Von: Jan Strobel

23. Oktober 2018

Am Puls Das Café Odeon ist wohl das berühmteste Kaffeehaus der Schweiz. Hier treffen sich die Zürcher am Morgen für ein bisschen Ruhe vor dem Sturm und am Abend für das nostalgisch Schillernde. Für die Serie «Am Puls» genehmigte sich Redaktor Jan Strobel ein paar Tassen Kaffee. Von Jan Strobel

Der Mann im leicht zerknitterten Anzug ergreift über das Marmortischchen hinweg die Hand der Dame. Ihre Gesichter zeigen noch die Schminke einer langen Nacht, ein Netz aus zarten Falten, das sachte um die schlafenden Augen gesponnen wurde. Wie der Mann jetzt die Hand der Dame hält, könnte er auch ihren Puls fühlen.

Es ist die Stunde im Café Odeon, an dem sich erst eine Ahnung des kommenden Tages herausbildet, untermalt vom Rascheln der Zeitungen, dem Scheppern der Tassen. Den Takt dazu gibt das regelmässige Abklopfen des Kolbens der Kaffeemaschine. An diesem Morgen, es geht gegen neun Uhr, ist das Odeon gleichsam ein Refugium der Entspannung, der viel gepriesenen Entschleunigung, während draussen beim Bellevue die Zürcher und Pendler ihren Arbeitsplätzen zuhasten. Die meisten von ihnen mögen wissen, anders, als dieses übernächtigte Paar am Marmortisch, was der Tag bringt. Sitzungen zum Beispiel, Pendenzen, ein nervöses Referat vor Studenten, wässriger Automatenkaffee aus der Kantine.

Das Zeitalter des Kaffees auf Knopfdruck ist im Odeon im Übrigen erst seit kurzem vorbei. Jesus Costoya, seit September Gastgeber im altehrwürdigen Haus, balanciert elegant das Tablett mit den Tässchen und silbernen Kännchen zu einem der Tische, wo gerade ein bekannter Zürcher Eventveranstalter eine morgendliche Besprechung im kleinen Rahmen abhält. Den Kännchen entströmt der Dampf von heissem Wasser, das Jesus Costoya jetzt routiniert, dabei mit Nonchalance, in die Tasse giesst, wo es der herb duftende Mokka aufnimmt – er serviert hier einen «Verlängerten», wie die Wiener sagen würden. Und so steht es auch in der Karte. Zu finden sind dort ebenfalls ein Kleiner Schwarzer oder ein Grosser Brauner. Für Zürcher Kaffeehausbesucher, die lieber von einem Kafi ­Creme, von Cappuccino, Latte oder Espresso reden, ist das mitunter fast Neuland. Mancher Gast muss sich auch im Odeon zuerst in das alte Wiener Abc der Kaffeekultur einführen lassen. Umso mehr, als auch der Kaffee selbst aus der Donaumetropole geliefert wird, er stammt von der Traditionsrösterei Julius Meinl. Irgendetwas hat sich hier im Café Odeon verändert. Silberne Kännchen, die zischende Kaffeemaschine, die «Verlängerten» von Julius Meinl, und der Fernsehbildschirm, der früher an der Wand beim Eingang hing, ist verschwunden. Die Fenster kommen jetzt in einem dezenten Jugend­stildesign daher, und auch die Bar wurde umgestaltet.

Im Raum zwischen Bar und Küche, dort, wo die Maschine zischt, steht Stephanie Portmann, die Chefin des Hauses und Enkelin von Gastrolegende Fred Tschanz. ­Zusammen mit ihrem Mann, Domenic Zembrod, leitet sie die Fred Tschanz Gastgewerbe. «Das Odeon», sagt sie, «wollte in der Ver­gangenheit einfach zu viel auf einmal sein. Jetzt haben wir mit der sanften Umgestaltung den alten Glanz wieder zurückgebracht, an den Mythos angeknüpft. Die Stimmung ist wieder da.» 

Den Mythos verkörperte vor allem auch ihr 2012 verstorbener Grossvater. Im Dezember 1972 hatte er das Café Odeon übernommen, als eigentlich niemand mehr an die Zukunft des Lokals glaubte. Ein paar Monate zuvor war es geschlossen worden, herunterge­kommen und verrufen wie es war, eine Haschhöhle, in der es regelmässig zu Schlägereien kam. Die glanzvollen Tage waren längst entschwunden. Fred Tschanz kam als Retter in der Not, der das scheinbar Tote mit Kraft wiederbelebte. Stephanie Portmann hat dem Grandseigneur einen ganz besonderen Platz im Odeon eingeräumt. In einem Séparée, ­hinter einem roten Vorhang, hängt eine ­Fotografie von Fred Tschanz, davor liebevoll drapiert ein Strauss Blumen. 

Das Séparée ist natürlich kein Ort für Morgengäste. Es knüpft vielmehr ein bisschen an die abgründig-erotische Epoche an, als im ehemaligen Variétésaal, der heute zur Apotheke nebenan gehört, die Tänzerin und Spionin Mata Hari auftrat, bevor sie 1917 in Frankreich hingerichtet wurde. Abends und nachts legt auch das Odeon ein bisschen Rouge auf. Die Stille des Morgens hat sich in einen schillernden Bardämmer verwandelt. Es wird Champagner serviert, dazu ein Plättli oder vielleicht, wieder so eine Neuheit im Odeon, ein Russisches Ei mit Schweizer Kaviar aus Frutigen, dazu Senf, Mayonnaise und Kapern. 

Das ist dann auch die Stunde der Stammgäste und Stadtoriginale. Zum Beispiel für den Mann im seidenen Jackett, der seit Jahrzehnten jeweils am Abend im Odeon gerne Hof hält, behängt mit üppigem Schmuck und den hier alle respektvoll «die Gräfin» nennen. Auch Jesus Costoya, der Gastgeber, hatte natürlich bereits die Ehre. Das Gefühl der Ehre kommt auch bei ihm selbst auf, wenn er von seiner Arbeit im Odeon spricht. «Hier in diesem geschichtsträchtigen Haus zu arbeiten», meint Jesus Costoya, «ist für mich wirklich ein Ritterschlag.» 

Solche Emotionen sind in der heutigen Gastrolandschaft eher selten zu hören – und immerhin: Welchem Zürcher Lokal wird schon ein eigenes Stück als Hommage gewidmet. Noch bis zum 28. November ist im ­Weissen Wind im Oberdorf «Odeon. Das ­musikalische Bühnenstück» zu sehen unter anderem mit Beni Thurnheer, Ronja Borer oder Stefan Camenzind. 

Weitere Informationen:
www.weisserwind.ch

zurück zu Reportage

Artikel bewerten

Gefällt mir 1 ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare