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Reportage

Ist die Europaallee wirklich ein Quartier von Zürich? Wir haben Passanten gefragt. Bilder: CLA, PD

Quartier der Pendler

Von: Clarissa Rohrbach

09. Juni 2016

Die SBB wollen die Europaallee als Stadtquartier positionieren. Bei Auswärtigen funktioniert das. Städter bleiben skeptisch.

«Ein Quartier voll Zürich.» So das Motto der neuen Werbekampagne, mit der die SBB zurzeit die Europa­allee beliebter machen wollen. Die rund 150 Plakate hängen seit einem Monat in der Stadt. Darauf sind hippe Menschen zu sehen, die sich in Cafés und Läden «fast wie im Kreis 3» amüsieren. Der Vergleich wirft Fragen auf. Kann man ein Konglomerat aus Neubauten wirklich «Quartier» nennen? Und ist die Europaallee genauso zürcherisch wie die Altstadt? Die Antworten haben wir vor Ort gesucht.

«Sorry, muss auf den Zug»
Die Wolken, die sich in der glatten Fassade spiegeln, sind an diesem späten Nachmittag das einzig Ruhige in der Europaallee. Die Passanten rennen die Bauwände entlang zum Bahnhof. Jeder zweite sagt hastig: «Sorry, ich muss auf den Zug.» Flavia (37) – Rucksack voller Bücher und Blick auf die Uhr – bleibt kurz stehen. «Ich fühle mich hier zu Hause, es ist wie ein kleines Dorf.» Die Dietikerin studiert am Schweizerischen Institut für Betriebsökonomie an der Lagerstrasse und verbringt den ganzen Tag in der Europaallee. Morgens Kaffee bei Starbucks, abends Apéro im Loft Five. «Sogar am Wochenende kommen ich und meine Freunde hierher.» So nah am HB, das sei ein guter Ausgangspunkt.

Auch Sarina (16) und Estelle (16) sind auf dem Nachhauseweg, auf die S 4 nach Adliswil. In der Hand halten sie Einkaufstaschen und Chips. «Wir kommen oft shoppen, es gibt hier ­alles.» Wenn die Bauarbeiten abgeschlossen seien, werde man sich hier sicher wie in einem Stadtquartier fühlen. Besonders freuen sich die beiden aufs Kino. Hinter ihnen kommt Francesco angelaufen, der gleicher Meinung ist: «Die Europaallee funktioniert für mich bereits jetzt», meint der 19-Jährige aus Winterthur. Er arbeite bei der UBS und könne hier alles einkaufen und sogar zum Coiffeur. «Ob die Zürcher die ­Gegend annehmen, weiss ich nicht. Für mich gehört sie zur Stadt.»

Erst nach einer halben Stunde finden wir einen Städter. «Hier kann gar nicht das gleiche Leben entstehen wie in einem Quartier», meint Fabio (39), der gerade aus dem Coop kommt, Batikschal um den Hals. Bei der Europaallee handle es sich um künstlich hingepflanzte Blöcke, eine Zementwüste für Business – mehr nicht. «Mehr Grün würde vielleicht helfen, um dem Ort eine Seele zu geben.»

Auch Pia (40) aus Wollishofen hat Vorbehalte. Ihr Pädagogikkurs ist ­fertig, sie will aufs Velo steigen. «Die Leute kommen hierher, um zu arbeiten und zu studieren, und dann ­gehen sie wieder. Diese Gegend lebt nicht wie der Rest von Zürich.» Auch die Lokale seien nur für die Pendler, sie kenne keinen Stadtzürcher, der sich in der Europaallee verabrede. Sie ­radelt davon, während Fabian (34) aus Wiedikon staunend stehen bleibt. Er komme selten hierher, die Gegend sei sehr gewachsen. «So etwas gab es in Zürich bis jetzt noch nicht, es hat etwas ­Weltstädtisches.» Das Angebot sei praktisch und hübsch, aber dass die Europaallee deswegen als Quartier gehandelt werde, sei schon speziell.

Europaallee braucht Zeit
Fazit: Während Auswärtige gegenüber der Europaallee offen sind, ist sie bei den Städtern eher verpönt. Die Skepsis belegen auch die Zahlen einer ­Umfrage von «20 Minuten». Einem Drittel ist sie zu langweilig, ein zweites Drittel ist sogar ungern dort. «Die Europaallee ist am Entstehen und muss noch entdeckt werden», meint Alexander Taiganidis, Inhaber der Agentur Hochspannung, welche die Kampagne entwickelt hat. Dafür brauche es noch Zeit. «Wenn jeder etwas für sich findet, wächst auch die emotio­nale Bindung zum Ort.» Wie lange das noch gehe, werde sich zeigen.

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