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Reportage

Heute präsentiert sich der einstige Strassenstrich am Sihlquai fast schon belauschich. Bild: JS

Sihlquai - das neue Idyll im Kreis 5

Von: Jan Strobel

27. Mai 2014

Die düstere Geschichte des Strassenstrichs klingt heute wie ein böses Echo aus einer anderen Zeit. Wir flanierten mit Thomas Zeller, Stadtammann Kreis 5, durch die Flusspromenade.

«Das Alleinsein am Sihlquai, es zeigt sich in dieser Freitagnacht in der Frau Mitte zwanzig unter der Kornhausbrücke, die kaum stehen kann. Sie hat sich zu hohe Schuhe angeschafft, aber das macht die Kundschaft nur noch schärfer. Die Gruppe von bulligen Glatzköpfen lässt sie nicht entwischen. Sie umzingeln sie, gierig. Sie fassen sie an, einer nach dem anderen, schieben ihr sonnengelbes Kleidchen hoch, damit sie ihr Hinterteil begutachten können.» So berichtete das «Tagblatt» über die Situation am Sihlquai, kurz bevor die Sex­boxen in Altstetten ihren Betrieb aufnahmen und die Geschichte des Strassenstrichs ein Ende fand.

Diese Passage klingt heute wie ein düsteres Echo aus einer anderen Zeit hinüber in die beschauliche Leere am Sihlquai. Es ist fast ein Idyll, das sich hier ausbreitet, die Limmat rauscht, hie und da rennt ein Jogger vorbei und Thomas Zeller, der Stadtammann vom Kreis 5, bemerkt einen Chriesibaum am Ufer. «Das ist doch fast schon kitschig», sagt er. «Und schauen Sie sich die Limmat an, das Grün rundherum, es könnte auch irgendwo auf dem Land sein.» Es scheint, als ob sich erst jetzt der Blick für diesen Ort richtig öffnen würde, nachdem er zuvor von all dem Elend und dem Dreck vernebelt worden war. «Seit 1988 arbeite ich im Stadtammann- und Betreibungsamt Kreis 5. So sauber wie heute habe ich das Sihlquai noch nie erlebt.»

Das findet auch Kurt Kürsteiner, der gerade aus der Werkstatt für Heizungs- und Sanitäranlagen in Hausnummer 252 kommt. «Früher», erzählt er, «mussten wir ­jeweils morgens zuerst einmal den ganzen Müll und die Exkremente wegschaffen, bevor der Tag richtig losgehen konnte. Es ist jetzt wirklich viel besser geworden.» Die einzigen, die jetzt am Sihlquai noch Müll hinterliessen, seien nachts die Partygänger. «Die Prostituierten sind völlig verschwunden.» 

Nicht nur der Drogenstrich, der sich in den Hinterhöfen oder unter der Kornhausbrücke abspielte, ist weg; auch die einstigen «Königinnen des Strichs», die Selbstständigen, die jeweils mit ihren BMW oder Mercedes auf dem Kiesparkplatz vor der Swissmill diskret auf Kundschaft warteten, sind Gestalten aus der Vergangenheit. Wohin all diese Frauen verschwunden sind, wenn sie nicht in den neuen Sexboxen arbeiten, Stadtammann Zeller kann nur mutmassen: «Ich befürchte, viele von den Strassenprostituierten wurden einfach gezwungen, im Ausland oder an einem anderen Ort in der Schweiz weiter anzuschaffen. Manche sind auch ins Private ausgewichen, wo sie natürlich keinen Schutz mehr haben.» Mit Bestimmtheit kann er allerdings bestätigen, dass der Stras­senstrich nicht in die Kreise 4 und 5 übergeschwappt ist. «Es gab tatsächlich keine Zunahme an illegaler Prostitution.»

Die Sexboxen in Altstetten beurteilt Zeller grundsätzlich positiv, schiebt aber gleich nach: «Es ist eine Illusion, Prostitution institutionalisieren zu wollen. Das wird nie funktionieren. Der menschliche Trieb lässt sich nicht in solche Bahnen lenken.» Trotzdem: Die heutige Situation am Sihlquai, für Zeller ist sie eine «gesellschaftliche Erfolgs­geschichte», die nur möglich geworden sei, weil alle, von den Medien über die Politik und die Fachstellen bis zum Quartier am selben Strick gezogen hätten. «Jeder sah ein, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, dass ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden muss. Es brauchte verdammt lange, aber schliesslich setzte sich ein gesunder Law-and-Order-Gedanke durch.»  
   
Dieser neue Friede am Sihlquai, er erhält für den Stadtammann Ausdruck in den Gittern, die früher die Drogenprostituierten von den Hinterhöfen abhalten sollten. Heute stehen sie einfach offen, sie sind zu Relikten der Stadtgeschichte geworden.   «Das einzige Problem, das wir jetzt noch am Sihlquai haben», sagt Zeller, «ist der Strassenlärm.» Erst wenn auch das gelöst ist, wird die neue Quartieridylle am Fluss perfekt sein. 

Bis zur Auflösung des Strassenstrichs am Sihlquai Ende August 2013 schafften dort bis zu 60 Frauen pro Nacht an. Heute werden die Sexboxen in Altstetten von durchschnittlich 15 Prostituierten pro Nacht genutzt. Im Niederdorf sollen es  zwischen 16 und 21 Frauen sein, die dort ihrem Gewerbe auf der Strasse nachgehen.  2013 wurden gemäss Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in der Stadt 25 Prozent weniger Fälle von Frauenhandel erkannt. Laut FIZ nur auf den ersten Blick eine gute Nachricht: Nicht die Aktivitäten der Menschenhändler würden zurückgehen, sondern das Auffinden der Opfer.

Lesen Sie zum Thema Sihlquai auch die Reportage vom Juli 2013: "Die letzten Frauen vom Sihlquai"

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