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Reportage

Gleiche Rechte für Mann und Frau – für heutige Frauen auf dem Emilie-Kempin-Weg eine Selbstverständlichkeit. Bild: Urs Hardegger

Steiniger Weg für die erste Schweizer Juristin

Von: Urs Hardegger

04. April 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Emilie-Kempin-Spyri-Weg.

Das hatte es noch nie gegeben. Ausgerechnet das Rechtsstudium wollte die Pfarrersfrau ergreifen. Unerhört, eine bereits 32-jährige Mutter von drei kleinen Kindern liess sich von ihrem Mann Latein und Maturakenntnisse beibringen, um an der Universität Zürich fürs Jurastudium zugelassen zu werden. Das war zur damaligen Zeit nicht nur dreist, sondern im höchsten Masse unweiblich. Denn eine juristische Tätigkeit verlangte logisches Denken, eine Voraussetzung, die den Frauen rundweg abgesprochen wurde.

Die Rede ist von Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), an die am Alt­stetter «Chilehügel» mit einem schmalen Weg erinnert wird. Schmal wie der Weg der ersten Schweizer Juristin, die in dem nur wenige Meter entfernten Pfarrhaus geboren wurde. Von ihrem Elternhaus durfte sie keine Unterstützung erwarten, ihr Vater war ein erklärter Gegner der Frauenemanzipation. Emilie Kempin liess sich durch all diese Widrigkeiten nicht entmutigen, schrieb sich an der Uni ein und schloss im Juli 1887 ihr Studium mit einem «summa cum laude» ab.

Rekurs abgeschmettert

Die grossen Probleme begannen ­danach. Als Frau ohne politische Rechte war es weder möglich, das Anwaltspatent abzulegen, noch, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Ihr wurde dadurch sowohl die Anstellung als Richterin, Staatsanwältin wie auch als Privatdozentin verwehrt. Dies kam praktisch einem Berufsverbot gleich. Was das bedeutet, erfuhr sie, als sie ihren Mann in einer Mietangelegenheit vertreten wollte. Sie wurde – wegen des fehlenden Aktivbürgerrechts – vom Gericht nicht zugelassen. Ihr Rekurs ans Bundesgericht war chancenlos. Wenn die Rekurrentin glaube, die Bundesverfassung postuliere in Artikel 4 («Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich») die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, so sei diese Auffassung «ebenso neu als kühn» und könne «nicht gebilligt werden», lautete die Begründung.

Man kann nicht sagen, dass der Weg übervölkert ist. Vor allem Frauen – im Gegensatz zu damals rechtlich gleichgestellt – nutzen mit Kinderwagen und Einkaufstaschen die ruhige Abkürzung entlang einer Wiese, die sich in einen geteerten und gekiesten Teil gabelt. Auch Kempins Weg blieb steinig. Die Familie wanderte nach New York aus, wo weibliche Rechtsanwälte tätig sein konnten. Sie gründete das «Women Law College», und es gelang ihr, an der Universität eine Professur für Frauenrecht zu erhalten. Ihr Mann konnte leider nicht Fuss fassen, und die Familie kehrte bald nach Zürich zurück. Trotzdem strotzte sie weiterhin vor Energie, gründete eine private Rechtsschule, die Zeitschrift «Frauenrecht» und hielt dank einer Spezialbewilligung Vorlesungen. Allerdings wurden diese von den meisten Studenten boykottiert.

In Irrenanstalt eingewiesen

Die nächste Erschütterung kam, als Emilie Kempin sich von ihrem Mann trennte. Sie gab die Kinder weg und zog 1895 nach Berlin, wo sie Privatrechtsvorlesungen hielt. Keine glückliche Zeit für Kempin: Freunde und Verwandte wendeten sich von ihr ab, und mit der Frauenbewegung hatte sie sich zerstritten. Ihr Leben geriet vollends aus der Bahn. Nach einem Nervenzusammenbruch wurde sie in einer Heil- und Pflegeanstalt interniert und 1899 in die Irrenanstalt Friedmatt nach Basel verlegt. In einem letzten Akt der Verzweiflung wollte sie bei einem Pfarrer als Dienstmagd arbeiten. Sie habe trotz ihres Studiums «die Künste und Fertigkeiten einer Hausfrau nicht verlernt», gab sie an.

Dazu kam es nicht mehr. Mit nur 48 Jahren starb sie vereinsamt. Eine mutige Frau war an der gesetzlich verankerten Benachteiligung zerbrochen. Bis die Schweizer Männer den Frauen das Wahlrecht zubilligten, sollte es nach ihrem Tod nochmals 70 Jahre dauern.

Quellen:
Delfosse, Marianne: Emilie Kempin-Spyri. Zürich 1994.
Hasler, Eveline: Die Wachsflügelfrau, München 1991.

Lesen Sie am 3. Mai den Beitrag zur Waserstrasse.

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