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Reportage

In den blühenden Gärten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich tanken kranke Menschen Kraft. Bild: Ginger Hebel

Stilles Paradies für kranke Seelen

Von: Ginger Hebel

27. Juni 2012

Wie sieht es eigentlich im Burghölzli, wie die Psychiatrische Uniklinik landläufig oft genannt wird, aus? Das «Tagblatt» hat sich auf den Stationen umgesehen, Ärzte begleitet und mit einer Patientin gesprochen.

C1 – Station für Depressionen und Angststörungen. Eine junge Frau läuft mit kleinen steifen Schritten im langen Gang auf und ab. Im Aufenthaltsraum zeichnet ein Mann Gesichter, daneben sitzen Patienten auf roten Lederstühlen, einige schweigen, andere reden mit dem Pflegepersonal. Auf dieser Akutstation werden Patienten mit affektiven Störungen wie Depressionen, Ängsten und Zwängen behandelt – den häufigsten psychischen Erkrankungen. Heinz Böker ist Leitender Arzt der Klinik für Affektive Erkrankungen und Allgemeinpsychiatrie Zürich Ost an der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK). Er öffnet die Tür zu einem Zimmer. Es ist ein Zweibettzimmer für Allgemeinversicherte, hell, mit eigenem Bad. Die Stationen werden in der Regel offen geführt. Sie sind nur dann geschlossen, wenn die Gefahr besteht, dass ein Patient davonlaufen oder sich etwas antun könnte. Die meisten dürfen sich auf dem grossen parkähnlichen Areal frei bewegen, manche haben Stadtausgang, abhängig von ihrer psychischen Verfassung. Viele verbringen die Wochenenden zu Hause bei ihren Angehörigen.

Der Aufenthaltsraum, der wie ein Wintergarten anmutet, verfügt über grosse Fensterflächen, die sich aber nicht öffnen lassen, zum Schutz der Patienten. Die Station verfügt über 14 Betten, alle sind belegt. Wie das gesamte Stammhaus der PUK an der Lenggstrasse 31 unterhalb des Balgrist mit seinen 15 Stationen und 265 Betten; es gibt Wartelisten. Auf mehrere Gebäude verteilt befinden sich die Akut- und Spezialstationen mit unterschiedlichen Behandlungsschwerpunkten wie Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen, Psychosen, Demenz. Im angrenzenden Gebäude ist die Tagesklinik für Affektkranke untergebracht, die 2006 eröffnet wurde. Die verschiedenen Ambulatorien und Tageskliniken komplettieren das stationäre Behandlungsangebot nach dem Zürcher Psychiatriekonzept: ambulant vor tagesklinisch vor stationär. Voraussetzung zur Aufnahme in die Tagesklinik ist eine stabile Wohnsituation und die Möglichkeit einer regelmässigen Teilnahme an den Therapieangeboten. «Unser Ziel ist, dass die Patientinnen und Patienten nur so lange wie nötig auf der Akutstation verbleiben, um dann in den tagesklinischen und ambulanten Angeboten weiterbehandelt zu werden», sagt Böker. Dadurch werden die Patienten nicht unnötig aus ihrem sozialen Umfeld gerissen. «So können mehr Personen behandelt werden, was bei der zunehmenden Anzahl an psychischen Erkrankungen die Versorgungssicherheit gewährleistet», erklärt Böker. Das ist mit die grösste Entwicklung, welche die PUK in den vergangenen rund 20 Jahren geprägt hat. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beläuft sich heute auf weniger als 30 Tage.

Myrta, (65, Name geändert), sitzt im Aufenthaltsraum der Tagesklinik. Sie leidet an einer bipolaren Störung, ist manisch-depressiv. Heute besucht sie die Klinik freiwillig. Bei ihrem ersten Aufenthalt wurde sie gegen ihren Willen in die PUK eingeliefert – ein Moment, den sie nie mehr vergisst. Als sie in einer manischen Hochphase an einer Party fremde Menschen umarmte, machte ihr aufgedrehtes Verhalten vielen Angst, die Polizei kam und nahm sie mit. Der Rechtsbegriff nennt sich FFE, Fürsorgerische Freiheitsentziehung. 17 Tage verbrachte Myrta damals in einer geschlossenen Station, hatte lediglich Arealausgang. Manchmal, da ist ihre Stimmung himmelhochjauchzend, dann zu Tode betrübt. In manischen Phasen schläft sie nur ein paar Stunden pro Nacht, ist aufgedreht, während einer Depression schläft sie 14 Stunden und ist auch dann nicht fit. «Ich fühle mich wie in Watte gepackt. Ich habe das Gefühl, ich sei gar nicht bei mir, nicht in meinem Körper.» Sie wuchs streng katholisch auf, lebte daheim, bis sie 30 war. Sie hatte immer zu allem Ja gesagt, ihr Sohn war hyperaktiv, ihr Mann trank, vor 16 Jahren wurde sie selber krank. Sie hat sich die psychische Erkrankung eingestanden – ein grosser Schritt. «Hadern bringt nichts, man muss daraus lernen, das weiss ich jetzt», sagt Myrta. Die Psychotherapie stärkt sie, die Medikamente halten ihre Stimmung stabil. Nach den Therapiestunden verlässt sie die Klinik und fährt nach Hause. Morgen wird sie wiederkommen.

Gedanken ordnen im Klinikpark

Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, landläufig oft Burghölzli genannt, wurde 1870 eröffnet und hat ihren Namen vom Burghölzli, einem bewaldeten Hügel, der an die Klinik grenzt. Heinz Böker begibt sich gelegentlich selber auf einen Spaziergang durch die Gartenanlage, um den Kopf auszulüften. Vorbei an Wildblumenwiesen und Bäumen, an denen über 200 teils alte und seltene Obstsorten wachsen, vorbei an Gewächshäusern und der Gärtnerei, wo einige Patienten mithelfen – ein stilles Paradies für kranke Seelen. «Hier können sich die Patienten einlassen auf das, was gerade ist. Es ist ein überschaubares Umfeld, und es gibt keine Erwartungen, die auf sie einstürzen wie im Alltag», sagt Böker.

Bei depressiv Erkrankten spricht man oft vom sogenannten Binnenfokus. Ihre Gedanken kreisen, sie nehmen ihr Umfeld nicht mehr richtig wahr. Sie haben zwar körperliche Beschwerden, spüren sich gleichzeitig aber selber nicht mehr. Depression ist nicht gleich Trauer. Trauer ist ein wichtiger Gefühlszustand, um Veränderungen im Leben verarbeiten zu können. Trauer kennt jeder. Bei einer schweren Depression hat dieser Schmerz keinen Platz mehr.

In der PUK werden auch viele Personen mittleren Alters behandelt, deren Jobverlust sie aus der Bahn geworfen hat. Andere haben das eigene Kind verloren und die Trauer nicht überwunden. Sie können sich nicht mehr selber helfen und suchen hier Unterstützung. «Jeder Fünfte erkrankt in seinem Leben mindestens einmal an einer mittelschweren Depression. Es ist leider eine Volkskrankheit geworden», gibt Böker zu bedenken. Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert, dass im Jahr 2030 die Depression die Liste aller Krankheiten anführen und somit die Kreislauferkrankungen ablösen wird.

Auf den Bänken auf dem Burghölzlihügel sitzen die Patienten und schauen auf den See hinunter. Für sie macht der Leiter der Gärtnerei Führungen durch das Klinikgelände. Mit etwas Glück begegnen sie dem Käuzchenpaar, das hier in Frieden lebt.

«Viele Patienten werten sich selber ab und schämen sich»

Paul Hoff*, wenn man Burghölzli hört, dann haben viele noch Bilder im Kopf vom gelben Wägeli, von Gummizellen und Zwangsjacken, wie sie in Filmen wie «Einer flog über das Kuckucksnest» vorkommen. Ist das die Realität?

Hoff: Die Psychothriller aus Amerika in den Siebzigern – so war es vor Jahrzehnten in manchen Kliniken wirklich. Es gab Zellen mit gepolsterten Wänden, damit sich die Patienten nicht selber verletzen konnten. Heute ist das nicht mehr so. Nur im äussersten Notfall, etwa bei einem schweren Erregungszustand mit Verletzungsgefahr, muss eine Behandlung gegen den Willen der betroffenen Personen durchgeführt werden, was aber gesetzlich genau geregelt ist. Wer in einer Lebenskrise in die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich eingeliefert wird, empfindet dies oft als schweren Einschnitt im Leben. Das Problem dabei ist die Stigmatisierung. Viele Patienten werten sich selber ab, sie schämen sich und haben Angst, abgestempelt zu werden.

Sie sind spezialisiert auf Psychosen. Wie machen sich diese bemerkbar?

Hoff: Es handelt sich dabei um eine meist schwere und mitunter chronische psychische Störung, die oft mit dem Verlust des Realitätsbezugs einhergeht. Wir behandeln viele Patienten mit schizophrenen Psychosen. Sie hören beispielsweise Stimmen, die andere nicht hören, schmecken etwas, das es nicht gibt, oder leiden unter Verfolgungswahn. Bei Menschen mit einer Psychose sind aber keineswegs alle psychischen Funktionen gestört. So denken sie ausserhalb der Wahnthemen oft sehr klar. Die Besprechung des wahnhaften Inhalts hingegen ist schwieriger oder wird abgeblockt. Ein Irrtum lässt sich korrigieren, ein Wahn nicht. Der Begriff Schizophrenie wurde 1908 an dieser Klinik vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler vorgeschlagen und hat sich weltweit rasch durchgesetzt. Ursprünglich aus dem Griechischen, bedeutet er wörtlich «gespaltene Seele». Was ein Mensch sagt und wie er es sagt, passt nicht mehr zusammen – er erzählt etwas Trauriges und lacht dabei.

Ist die Krankheit häufig?

Hoff: Das Lebenszeitrisiko bei jedem von uns liegt, je nach Studie, zwischen 0,6 und 1 Prozent, die aktuelle Häufigkeit etwa bei 0,3 bis 0,5 Prozent. Die Schweiz zählt 8 Millionen Einwohner, das wären also 40 000 Betroffene.

Lassen sich Psychosen therapieren?

Hoff: Ja, wesentlich besser und nachhaltiger als früher. Aber auch in der Psychiatrie gibt es natürlich schwierig zu behandelnde Fälle bis hin zur eigentlichen Therapieresistenz. In so einem Fall braucht es die vereinten Bemühungen aller beteiligten Berufsgruppen, um doch einen Weg zu finden. Es gab in der Psychiatriegeschichte immer wieder die Hoffnung, dass man die eine Behandlung gefunden habe, die immer und überall hilft. Heute weiss man, dass es das nicht gibt. Jeder Patient, jede Patientin braucht eine individuelle Kombination von Behandlungsansätzen, etwa Psychopharmaka, Psychotherapie, Ergotherapie, Musiktherapie etc. Menschen mit schweren Depressionen beispielsweise sind oft stumm, gefangen in ihrem Körper, in ihren Gedanken, da können wir zu Beginn keine Psychotherapie anwenden, die stark auf Gesprächen beruht. Aber wir können schauen, dass es den Körper noch gibt. In der Musiktherapie beispielsweise lernen die Patienten Gefühle zu zeigen. Auch gibt es auf zwei unserer Stationen einen Therapiehund – unsere Patienten schätzen diese tiergestützte Behandlung sehr.

Die Patientin, mit der wir gesprochen haben, wurde gegen ihren Willen bei Ihnen eingeliefert. Passiert das oft?

Hoff: Ja, leider gibt es auch im Kanton Zürich immer noch viele Einweisungen dieser Art, und das ist natürlich für alle Beteiligten ein Problem. Denn Menschen, die nicht freiwillig durch Absprache mit dem Arzt zu uns kommen, wollen sich ja auch nicht behandeln lassen. In der Schweiz heisst die Rechtsfigur FFE, Fürsorgerische Freiheitsentziehung. Sie tritt etwa dann in Kraft, wenn Menschen psychotisch oder im Rahmen einer Depression suizidal werden. Glücklicherweise gelingt es uns aber in den meisten Fällen relativ schnell, die Situation zu beruhigen. Dann kann die FFE aufgehoben und die betroffene Person auf freiwilliger Basis weiter behandelt werden. 

 * Paul Hoff ist Chefarzt und stv. Direktor der Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie Zürich West an der Psychiatrischen Universitätsklinik.

 

Die PUK in Zahlen

Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK) verzeichnete 2011 gesamthaft 4294 stationäre Eintritte sowie 35 252 tagesklinische resp. 85 734 ambulante Behandlungen. Im Vorjahresvergleich entspricht dies einer Zunahme um 524 stationäre Eintritte (+13,8%), 1292 tagesklinische Behandlungen (+3,8%) und 5983 ambulante Behandlungen (+7,5%). Gegenüber 2010 reduzierte sich die Anzahl Pflegetage gesamthaft um 3165 auf 170 257 Tage. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt in den Bereichen Akutpsychiatrie, Gerontopsychiatrie und Sucht bei 29,4 Tagen, welche im Vergleich zu 2010 mit durchschnittlich 34,4 Tagen nochmals gesenkt werden konnte. Das Durchschnittsalter der Patienten beträgt 47 Jahre.

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