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Reportage

Der Platzspitz ist längst wieder ein Ort der Ruhe: Weg zum Musikpavillon und zum Erweiterungsbau des Landesmuseums von Christ & Gantenbein. Bild: H. Wehrli

Von der Idylle zur Hölle und zurück

Von: Urs Hardegger

24. Januar 2017

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt der Stadt Zürich» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Platzspitz.

Kuhweide, Drogenhölle, Truppenübungsplatz, Schwulenstrich, Flaniermeile, Festgelände und Ort der Inspiration. Die Geschichte des Platzspitzes liest sich wie eine Zürcher Sozial- und Kulturgeschichte in Kurzform.

Und dies alles in einer überschaubaren Parkanlage, die sich zwischen Limmat und Sihl zu einem reizvollen Spitz beim Drahtschmidli verengt. Einst erstreckte sich die Anlage bis zur Gessnerallee, auf Wiesen weideten Kühe und Schafe, und Soldaten führten Schiessübungen durch. Doch das ist lange her. Den Grundstein zur heutigen Anlage legte zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Schützengesellschaft, als sie Lindenalleen anlegen liess und Ruhebänke aufstellte. Von nun an vertrieb sich hier das städtische Bürgertum seine Freizeit. Man promenierte und genoss es, sich in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Diese Idylle ging um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu Ende. Der neue Hauptbahnhof trennte das Areal von der Innenstadt ab, und am Sihl- und Neumühlequai entstanden Industrieanlagen, die die Luft verpesteten. Allmählich geriet die Parkanlage in Vergessenheit.

Das änderte sich 1883 schlagartig. Auf dem Areal des Platzspitzes öffnete die erste schweizerische Landesausstellung ihre Tore und stellte alles in den Schatten, was die eidgenössische Festkultur bisher hervorgebracht hatte. Die für die damalige Zeit schier unglaubliche Zahl von 1,7 Millionen Besuchern fand sich in Zürich ein. Der Dichter Gottfried Keller liess sich jedoch nicht von der allgemeinen Begeisterung mitreissen. Ein «Höllenspektakel» sei es gewesen, meinte er despektierlich.

Hommage an James Joyce

Zurück blieben Musikpavillon sowie Pappel- und Lindenalleen. Wenig später entstand das Landes­museum. Der grüne Spitz fand zu seiner alten Bedeutung zurück, wurde wiederum ein Ort der Erholung und Musse. Inspiration bot er auch dem Flüchtling James Joyce, der sich während des Ersten Weltkriegs gerne hier aufhielt. An ihn erinnert die Inschrift «Ljmmat Sjhl» des Künstlerpaares Hannes und Petruschka Vogel auf der vordersten Mauer des Spitzes. Kein Rechtschreibfehler: Die beiden j sind eine Hommage an den irischen Dichter.

Gessners «Entführung»

Oft, wenn ich durch den Park schlendere, halte ich einen Moment vor der Büste des Dichters und Malers Salomon Gessner inne. Im 19. Jahrhundert glaubte man, mit Denkmälern von vorbildlichen Männern das sittliche Empfinden des Volkes zu verbessern. Wenn dies der Fall wäre, müsste es schlecht um uns bestellt sein. Kaum jemand beachtet die Skulptur Gessners. Einzig ihre «Entführung» im Jahre 1981 durch Anhänger der ­Jugendbewegung sorgte kurz für Furore. Allerdings wurde die Büste kurze Zeit später wieder «ausgesetzt» und kam auf den alten Platz zurück.

Traurige Berühmtheit erlangte der Park durch die offene Drogenszene, die sich Ende der 80er-Jahre im Platzspitz niedergelassen hatte. Bezeichnungen wie Needlepark, Junkietown, Drogenmekka gingen durch die Weltpresse. Bilder des staatlich geduldeten Elends bleiben bis heute im Gedächtnis haften.

Glücklicherweise hat die grüne Oase zu ihrem eigentlichen Zweck zurückgefunden. Welch ein Verlust wäre es gewesen, hätte man den Park 1979 nach dem Vorbild des Wieners Praters in einen Vergnügungspark umgewandelt. Zürich leidet wahrlich nicht an zu wenig Events.

Wer sich für die Promenade unter den uralten Platanenalleen etwas Zeit nimmt, wird mit Ruhe und einer vielfältigen Umgebung belohnt: Limmat, Sihl, der burgartige Betonneubau des Landesmuseums und flussabwärts die 118 Meter hohe Betonstele des Swissmill-Silos sind zu sehen. Nicht nur zwei Flüsse, auch Vergangenheit und Gegenwart fliessen am Platzspitz ineinander.

Quelle:
Grün Stadt Zürich (Hrsg.): Platzspitz. Insel im Strom der Zeit, Zürich 2016.

Lesen Sie am 8. Februar 2017 den Bericht zum Bircher-Benner-Platz.

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