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Reportage

Historiker Helmut Meyer analysiert die mögliche Entwicklung, die Zürich ohne Eingemeindung hätte nehmen können. Bild: Isabella Seemann

War Gross-Zürich zu vermeiden?

Von: Isabella Seemann

03. Januar 2018

125 JAHRE EINGEMEINDUNG Natürlich ist es müssig, zu fragen, wie viel Zufall in der Geschichte steckt – schliesslich können wir das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Aber im Grunde zielt diese spielerische Frage «Was wäre, wenn . . .» auf den Kern der Geschichtsschreibung. Ist die Geschichte ein träger Strom oder ein Blatt im Wind? Schreibt der Mensch die Geschichte oder formt die Geschichte den Menschen? Wir fragen Helmut Meyer, Historiker, ehemaliger Geschichtslehrer am Literaturgymnasium Rämibühl, Lehrbeauftragter an der Universität Zürich und Autor zahlreicher Bücher zu Zürichs Geschichte, ob es nicht auch hätte anders kommen können. Was wäre, wenn es nicht zur Eingemeindung gekommen wäre?

Was wäre geschehen, wenn . . .? ­Keine Frage ist so unwissenschaftlich und so spannend.

Alternative 1: Die liberale Kantonsverfassung von 1830/31 wurde nicht eingeführt. Die Stadt Zürich warf vielmehr mit Truppen aus den konservativen Kantonen Schwyz und Uri die Bewegung der Landschaft nieder. Für die Wirtschaft galt nun wieder die Zunftordnung. Die Errichtung von Fabriken wurde verboten, ebenso der Bau von Eisenbahnlinien. Dem 1848 geschaffenen Bundesstaat trat Zürich nicht bei. Wegen der grassierenden Armut wanderten 80 Prozent der Kantonsbevölkerung nach Amerika aus. Winterthur schloss sich dem fortschrittlichen Kanton Thurgau an. Zürich blieb hinter seinen Festungsmauern so, wie es schon immer war. Eingemeindungen drängten sich nicht auf.

Alternative 2: Der Zusammenschluss der Stadt mit elf Vorortsgemeinden wurde in der kantonalen Volksabstimmung vom 9. August 1891 abgelehnt. Auch ein zweiter Versuch, diesmal ohne Einbezug des renitenten Wollishofen, scheiterte 1897. Nun suchte man Ersatz durch die Schaffung von Zweckverbänden zwischen der Stadt und den angrenzenden Gemeinden. Es entstanden unter anderem ein Verkehrsverbund, ein Polizeiverbund, ein Spitalverbund, ein Feuerwehrverbund, ein Trinkwasserverbund, ein Abwasserverbund, ein Elektrizitätsverbund, ein Strassenunterhaltsverbund, ein Entsorgungsverbund, ein Lebensmittelkontrollverbund und ein Bauteninspektionsverbund. Nicht alle Gemeinden waren in allen Verbänden, was die Übersichtlichkeit nicht erleichterte. Beschlüsse in diesen Zweckverbänden erforderten Einstimmigkeit und mussten in allen Gemeindeversammlungen abgesegnet werden. Die Entwicklung vollzog sich eher zähflüssig. Immerhin einigten sich die Stadt und acht Gemeinden bereits 1925 auf den Bau der drei ersten elektrischen Tram­linien.

Für die notleidenden Vorortsgemeinden Aussersihl, Wiedikon und Wipkingen wurde, nachdem die Eingemeindung nicht zustande gekommen war, die Einführung eines kantonalen Finanzausgleichs geplant. Dies scheiterte jedoch in einer Volksabstimmung 1898. Darauf trat der Gemeinderat von Aussersihl geschlossen zurück, nachdem er in seiner letzten Sitzung noch den Pleitegeier zum Wappentier erklärt hatte. Notgedrungen unternahm nun der Kanton die Verwaltung der drei Gemeinden, was mit hohen Kosten verbunden war. Dies führte zu lebhaften Protesten am See und im Oberland, wo sich Freischaren bildeten, die zum Kampf gegen das «blutsaugerische rote Aussersihl» aufriefen. In den betroffenen Gemeinden entstanden als Antwort ebenso kampfbereite Arbeitermilizen. Der Bürgerkrieg drohte . . .

Vielleicht war es doch gut, dass die Eingemeindung stattgefunden hatte.

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